Dialektik von Basis und Überbau

Die PDS ist in der Krise, das wissen auch die Mitglieder an der Basis in Kreuzberg-Friedrichshain. Am Donnerstagabend diskutierten sie mit ihren Parteitagsdelegierten – und schimpften auf die Regierungsbeteiligung in Berlin. Ein Stimmungsbild

von THOMAS GOEBEL

Die sechs Delegierten sitzen 30 Zentimeter höher als die Basis. Vom Podium ganz vorne im „Großen Saal“ des Friedrichshainer Bürgerhauses können sie hinabschauen auf die Genossinen und Genossen aus Kreuzberg-Friedrichshain, die sich in die festgeschraubten, hölzernen Schulbänke des alten Bürgerhauses gezwängt haben.

Die Reihen sind dicht besetzt. 80 Parteigenossen sind gekommen an diesem Donnerstagabend, um ihren vom Parteitag in Gera zurückgekehrten Delegierten die Meinung zu sagen – die Meinung zur Krise der Partei im Allgemeinen und zur Berliner Senatspolitik im Besonderen. „Wie weiter mit der PDS?“, steht in Großbuchstaben auf der Einladung. Das bedeutet auch: Wie weiter mit der Berliner Regierung?

In der ersten Reihe erhebt sich ein älterer Herr, weißharig ist er wie die meisten Parteimitglieder im Raum. „Wir an der Basis hatten eine völlig andere Meinung zum Koalitionsvertrag als der Parteivorstand“, ruft er. „Unsere Krise ist eine Krise zwischen der Partei und den Massen!“ Zustimmend nicken sie im Saal.

Und schon ist es da, im Friedrichshainer Bürgerhaus: das Gespenst von Gera. Auf Antrag der alten wie neuen PDS-Vorsitzenden Gabi Zimmer hatten die Genossen dort beschlossen, was sie vom Mitregieren der Berliner halten: „Es stellt sich die Frage, Koalitionen auf Landesebene zu beenden.“ Die Berliner Delegierten waren mehrheitlich anderer Meinung, darum galten sie als Zimmer-Gegner, die je nach Standpunkt als „Reformer“ gerühmt oder als „Sozialdemokraten“ verspottet werden.

Von Reformen und der Lust am Regieren ist im Bürgersaal Friedrichshain wenig zu spüren. „Die Meinung der Basis wird in unserer Partei gering geschätzt“, ruft ein Genosse. „Sie wird ignoriert!“, ergänzt der nächste.

Die Stimmung ist gereizt, ein Redner nach dem anderen erhebt sich aus den engen Reihen und prangert „die da oben“ an, die ohnehin nur machen, was sie wollen. „Die da oben“ – das ist die Führung der eigene Partei: der Landesvorstand, die Fraktion im Abgeordnetenhaus, die Senatoren.

Nach einer Stunde Diskussion platzt Steffen Zillich oben auf dem Podium der Kragen. Niemand im Saal hat ihn persönlich angegriffen, und doch ist er gemeint: Zillich ist Sprecher des Bezirksverbands, und er ist für Gregor Gysi ins Abgeordnetenhaus nachgerückt. An diesem Abend steht Zillich für die Politik der Parteiführung, für die Politik des Senats.

„Wenn man sich in der Leitung der Partei darauf beschränkt, auf die Stimmungen an der Basis zu achten, dann kommt man nicht mehr zur Politik!“, ruft er dem Murren der Genossen entgegen. Es reiche eben nicht aus, immer nur dagegen zu sein. Die PDS, sagt Zillich, hat ein „politisches Substanzdefizit“. Für die Politik in Berlin habe es vor der Koalition „keine belastbaren Positionen“ gegeben.

Opposition oder Kompromisse – es ist eine klassische Diskussion, die die Parteibasis und ihre Delegierten an diesem Abend führen. Und so werden auch im Bürgerhaus Friedrichshain irgendwann historische Sätze gesagt. „Unser Problem ist doch: Wie kann eine sozialistische Partei im Kapitalismus Politik machen?“, fragt ein älterer Herr mit grauem Bart nach anderthalb Stunden Diskussion.

Die Mehrheit der Genossen in Kreuzberg-Friedrichshain scheint an diesem Abend eine ebenfalls klassische Lösung des Problems zu wollen: Auf Parteiversammlungen kämpferische sozialistische Parolen ausgeben, in den Parlamenten praktische Politik machen und den Widerspruch zwischen beiden Haltungen ignorieren.

Denn bei allem Ärger über die Partei und die von ihr unterstützte Berliner Politik fordert niemand im Friedrichshainer Bürgerhaus, die Koalition zu beenden. Die Lösung der Krise wird an die viel gescholtene Parteiführung delegiert: „Die Spitze muss sich zusammenfinden“, fordert ein Genosse, und wieder nicken sie im Saal.

Pünktlich nach zwei Stunden ist der Ärger abgeklungen, die Parteimitglieder sammeln Mäntel und Hüte zusammen und schieben sich aus den engen Sitzreihen nach draußen. Der Unmut ist geäußert. Die Partei kann weitermachen.