Der Körper als eigenes Territorium

Kolumbiens bekanntester Tänzer: Statt international Karriere zu machen, arbeitet Álvaro Restrepo mit Kindern und Jugendlichen aus Cartagenas Elendsvierteln. Auf Kampnagel beteiligt er sich derzeit an dem Chat-Projekt mit Jugendlichen

Interview: KNUT HENKEL

Álvaro Restrepo stammt aus Cartagena. Er hat ihn New York zeitgenössischen Tanz studiert und dort, aber auch in Europa als Tänzer und Choreograph große Erfolge gefeiert. Derzeit läuft in der Reihe „Kampnagel macht Jugendtheater“ eine internationale Tanzbegegnung zwischen Jugendlichen aus drei Ländern. Unter der Leitung von Alvaro Restrepo und Marie-France Delieuvin haben 50 kolumbianische, französische und Hamburger Jugendliche gemeinsam ein kultur- und sprachübergreifendes Tanzspektakel entwickelt.

taz hamburg: Sie haben eine aussichtsreiche Karriere als Tänzer auf internationaler Ebene aufgegeben, um eine Schule, das Colegio del Cuerpo, zu gründen. Wieso?

Alvaro Restrepo: Ich glaube, dass die pädagogische und soziale Arbeit Teil der Arbeit eines aktiven Künstlers ist. Ein Künstler muss im Dialog mit der sozialen Realität sein. Daraus schöpft er schließlich auch seine Inspiration. Ich habe nicht meine persönliche Karriere aufgegeben – ich habe sie weitergeführt.

Wie und wann haben Sie das Colegio del Cuerpo, ihre Tanzschule, in Cartagena aufgebaut?

Bevor ich mit dem Tanz begonnen habe, habe ich mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet – mit Straßenkindern in Bogotá. Als ich nach einigen Jahren im Ausland 1991 nach Kolumbien zurückkehrte, kam ich mit dem Ziel, ein pädagogisches Tanzprojekt zu beginnen. 1994 bin ich dann endlich nach Cartagena gegangen und habe mein Colegio del Cuerpo eröffnet. Begonnen haben wir mit 480 Kindern der sechsten Klasse in Kooperation mit einer Schule. Aus dieser Gruppe haben wir ein Pilotgruppe herausgefiltert. Das waren etwa 20 Kinder, die heute die Grupo piloto experimental, die derzeit auf Kampnagel im Rahmen des Chat-Projekts gastiert, bilden. Mit dieser Gruppe arbeiten wir auch in den Elendsvierteln Cartagenas, um den Kindern dort ein Bewusstsein für ihren Körper und was in ihnen steckt zu vermitteln. Eine Atempause von Elend und Gewalt, die oftmals ihren Alltag prägen.

Welche Bedeutung hat die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen für Sie?

Ich habe die Chance, einigen Jugendlichen eine Alternative zu ihrem bisherigen Leben zu bieten. Einige haben ihre Leidenschaft für den Tanz entdeckt und wollen professionell arbeiten. Zweitens glaube ich, dass es in einem Land wie Kolumbien wichtig ist, den eigenen Körper als eigenes Territorium, als eigene Dimension zu entdecken.

Wie finanzieren Sie das Colegio?

Generell ist es leichter, Geldgeber außerhalb als innerhalb Kolumbiens zu suchen. Die Situation in Kolumbien ist derart angespannt, dass die Verantwortlichen oftmals nicht die nötige Distanz aufbringen, um zu verstehen, dass es andere Ansätze, Wege, Perspektiven und Alternativen gibt als diejenigen, die derzeit international für Schlagzeilen sorgen. Das Problem ist, dass immer gedacht wird, dass sich die Probleme nur über Instrumente, die auf wirtschaftliche oder sonstige Bereiche abzielen, lösen lassen. Man vergisst die Arbeit mit dem Geist, die Kultur, die Sensibilisierung und Vorstellungsfähigkeit der Menschen.

Woher nehmen Sie Ihren Enthusiasmus? Kolumbien befindet sich derzeit nahezu im offenen Bürgerkrieg...

Ich will nicht leugnen, dass der durch die Realität in Kolumbien immer wieder gedämpft wird. Aber dieses unglaubliche Talent, diese menschlichen Diamanten, die nur ein wenig Hilfe brauchen, um zu strahlen, das motiviert mich. Und wenn man ihnen nicht hilft, dann entwickeln sie sich vielleicht in eine menschliche Bombe, wie so viele andere Jugendliche, die in den Krieg ziehen oder in die organisierte Kriminalität. Die Kinder und Jugendlichen sind letztlich die Quelle meiner Energie und meiner Hoffnung für mein Land.

weitere Vorstellungen des Chat-Projekts: 31.10.–3.11., 19 Uhr, Kampnagel