Versammlung auf Drittliganiveau

Die Jahreshauptversammlung des FC St. Pauli geht in die Verlängerung. Entscheidungen wurden am Freitagabend noch keine getroffen. Dafür ging es zu, wie bei einem Fußballspiel. Mitglieder pöbelten, als ob ein gegnerischer Verein den FC St. Pauli in die dritte Liga geschossen hätte

Mit dem ersten Teil der Jahreshauptversammlung (JHV) bewies der FC St. Pauli, dass ehemalige Werte wie Toleranz, Kritikfähigkeit und Diskussionskultur in der Masse an Niveaulosigkeiten untergehen. Kurz vor Schluss unterbrach der Versammlungsleiter die JHV. Wahl des Aufsichtsrates und Behandlung der Abwahlanträge finden in der Verlängerung am 21.11. statt.

Der Anpfiff verspätete sich am Freitagabend um 37 Minuten – wegen der Registrierung der 1200 Mitglieder, die an der bestbesuchten JHV seit Bestehen des FC St. Pauli teilnehmen wollten. Der Saal 2 im CCH war beinahe komplett besetzt.

Der Antrag auf Vorverlegung aller Abwahl- und Vereinsausschlussanträge gegen Reenald Koch, dessen Vize Christian Pothe und den Vorsitzenden der Abteilung Fördernder Mitglieder (AFM), Holger Scharf, zeigte gleich zu Beginn, dass es den Mitgliedern um schnelle Entscheidungen ging. Der Antrag wurde angenommen, der Tagesordnungspunkt wanderte nach vorne. Doch auch das sollte am Ende nicht mehr reichen.

Der Bericht des Präsidiums fiel erwartungsgemäß positiv aus. Reenald Koch hob die gute finanzielle Lage hervor und lobte die „hervorragende Zusammenarbeit mit sämtlichen Organen“. Die mit Spannung erwartete Präsentation des Stadionprojekts leitete Christian Pothe mit dem Versprechen ein, „dass wir das Ziel während unserer Amtszeit erreichen werden“. Auf erhoffte Standing Ovations nach der Präsentation wartete er allerdings vergeblich. Fünf verschiedene Modelle wurden präsentiert, die nicht mehr als skizzierte Ideen einer möglichen Finanzierung darstellten. Projektleiter Markus Linzmair von der Berlin Hannoverschen Hypothekenbank stellte Alternativen vor, um „ein Milliönchen hier und ein Milliönchen dort herzubekommen“.

Das Stadion soll 45-46 Millionen Euro kosten. Die Kosten zur Bebauung des Vorplatzes sind von knapp 60 Millionen Euro im Frühjahr diesen Jahres auf knapp 75 Millionen Euro gestiegen. Für das 120 Millionen Euro teure Gesamtprojekt benötigt der FC St. Pauli Eigenkapital. Linzmair pocht auf die „Gleichbehandlung zum HSV“ der damals knapp 14 Millionen Euro für den Bau der AOL-Arena bekommen hat.

Dabei reiche die Bereitstellung des Grundstückes nicht, weil dies nicht von den Baukosten entlaste und ohne Bebauung auch nicht werthaltig sei. Neben diesem verhandeln um einen Zuschuss der Stadt („Bitte macht uns unsere Heimat nicht kaputt“, so Linzmair), verhandelt der FC St. Pauli alternativ um Bürgschaften in Höhe von 12-14 Millionen Euro, ein mögliches Tilgungsmodell (2,24 Millionen Euro jährlich nur für das Stadion), auf Risikokapital eines Großinvestors („hohe Chancen durch Qualifikation für die 1. Liga“) sowie auf Förderung aus EU-Töpfen („geschenktes Geld für den Verein als Möglichkeit offen halten“). Weiterer Möglichkeit: Ein Modell mit energieeffizienter Struktur soll alle beteiligten Unternehmungen (Stadion, Kita, Schwimmbad) mit Fernwärmeleitungen verbinden. Aus Fördertöpfen (Althener-Modell) sollen so 30 Prozent (24 Millionen Euro) von immerhin 80 Millionen Euro Baukosten kommen.

Im kommenden April soll eine außerordentliche Mitgliederversammlung stattfinden und zwischen Mai und September 2003 mit dem Bau begonnen werden. Ergebnisse aus Gesprächen mit Sponsoren wie der Holsten-Brauerei, die an den Namensrechten des Stadions interessiert sein soll oder Vereinbarungen mit der Bäderland, der Hotelgruppe Lindner, Siemens oder Philips konnten die Stadionplaner nicht vorlegen. Immerhin versprach Linzmair, dass Bausenator Mario Mettbach das Stadion wollen würde. „Seriöser kann man nicht planen“, sagte Reenald Koch. „Ich weiß, dass es schwer wird“, wich Linzmair einigen Fragen aus.

Bald darauf beendete eine ungeduldige Mehrheit die Diskussion zu diesem Themenkomplex. Der anschließende Bericht und Abschied des Ehrenrat-Vorsitzenden Harald Stender war der einzige Schulterschluss aller Mitglieder an diesem Abend. Zum Schifferklavier wurde davon gesungen, dass St. Pauli niemals untergehen werde.

Was dann folgte, kam einem Fußballspiel näher als einer JHV. Es wurde gepöbelt und gewettert, als ob ein gegnerischer Verein den FC St. Pauli in die dritte Liga geschossen hätte. Der Bericht des AFM-Vorsitzenden und Koch-Kritikers Holger Scharf ging in wüsten Beschimpfungen unter. Gesten symbolisierten ein Köpfen des Redners, als einer „Lügner“ rief, bat Scharf ihn ans Mikrophon. Die beiden begannen ein Wortgefecht, Versammlungsleiter Karsten Marschner schien mit der Situation überfordert und ließ das Mikrophon von Scharf abstellen. Der weigerte sich anschließend, seinen Bericht fortzuführen. Kurz darauf wurde die JHV bei Punkt sieben der Tagesordnung unterbrochen und auf den 21.11. verschoben. Hoffentlich wirkt der Präsident dann etwas beruhigender auf alle Mitglieder ein. OKE GÖTTLICH