Nackte Wahrheiten

Außen glücklich, innen zermürbt: Das Junge Theater schickt in Alexej Schipenkos „Die Untersuchung eines Zufalls“ zwei Eheleute in den Tod

Jackie Beckmann lässt sich ein Schaumbad ein. Sie geht zum Tresen, mixt sich einen Drink und schlurft mit eingezogenem Kopf wieder Richtung Bad. Könnte eine Szene aus Derrick sein. Neureiche in Derrick-Folgen machen sich ständig an gut gefüllten Hausbars zu schaffen, meist wirken sie seelisch angeschlagen.

Doch Jackie Beckmann ist nicht die Mutter eines Mörders, dessen schreckliche Tat die Abgründe in der scheinbar intakten Familie offen legt – sie hat keine Kinder. Ansonsten aber ist alles wie im TV-Krimi: Jackie lebt in einem schnieken Haus auf Sylt, ihr Mann ist erfolgreicher NDR-Moderator und familiäre Abgründe gibt es en masse. Alsbald blättert der Putz von der ach so glatten Idylle und entblößt hässliche Wahrheiten.

Der russische Regisseur und Autor Alexej Schipenko hat das Stück extra auf Sylt zugeschnitten, hat es in der dortigen Produktionshalle von Sylt-Quelle zusammen mit dem Ensemble des Jungen Theaters inszeniert und in Rantum zur Uraufführung gebracht. Vergangenen Freitag hatte Schipenkos Zufallsanalyse im Jungen Theater seine Bremer Premiere. Und die Sylt-Atmosphäre im Güterbahnhof, sie strauchelt: Das Meeresrauschen aus dem Lautsprecher erzeugt kaum salzige Lippen.

„Die Untersuchung eines Zufalls“ ist schon fast ein Gegenstück zu „The Race“, in dem sich im Herbst 2000 unter der Regie Schipenkos das Junge Theater im Parkhaus am Brill jagte. Die Inhalte beim neuen Werk sind wesentlich leichter zugänglich. Es treten auf: ein nach außen hin glückliches Paar (innerlich zermürbt), Anja Wedig mimt Jackie Beckmann, Michael Pundt Ehemann Rainer Werner. Dazu ein Postbote, dessen Rolle undurchsichtig bleibt. Ist Benni Böhmert (Denis Fischer) da, weil jemand mit der Hausfrau in der Badewanne vögeln muss, während der Ehemann seine Sendung moderiert? Ist Benni Böhmert da, weil jemand Jackie am Ende vom Leiden erlösen und im Badewasser versenken muss? Vielleicht ist er auch nur der x-beliebige Störfaktor, der eine alte tragende Wand einreißt. Oder ist er vielleicht der Zufall?

Früher oder später musste es doch so kommen, die Ehe war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Eine leere Hülle aus Ritualen, an die sich Rainer Werner Beckmann klammert: Aufstehen, Zähneputzen, Werbeslogans trällern, Espresso, das Meckern der Ehefrau, zur Arbeit. Die Rituale der Beckmanns erinnern an Filme wie „Lola rennt“ oder „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Mit dem Unterschied, dass das Rad der Zeit weiterrumpelt und nicht ständig neu ansetzt. Völlig aus dem Rhythmus geworfen schlitzt sich Beckmann am Ende die Pulsadern auf und legt sich – nach Ruhe lechzend – zu seiner emotionslosen, ertränkten Frau in die Wanne.

Dank an Benni, dass er nicht auf die „Intime Nähe erwünscht“-Ansage des Moderators reagiert hat und die sexuelle Vereinigung der beiden Männer dem Zuschauer erspart. Selbigem springt sowieso oftmals übertrieben zur Schau gestellte Nacktheit ins Gesicht. Auch im Jungen Theater muss es nicht zwingend jeder mit jedem einmal treiben, damit die Aufführung zur Vollendung findet!

Anja Wedig und Michael Pundt überzeugen trotzdem. Ein schönes Stück, mit kleinen Mankos. So schön nämlich, dass es gar nicht aufhören will. Es dauert eine zähe Kaugummifadenlänge, bis es Beckmann endgültig dahinrafft. Vorher muss er noch ein paar Mal ans Telefon und spuckt Erkenntnisse über das Leben aus. Ein langwieriges Siechen bis zum letzten Atemzug. Seine Weisheiten bringen ihm dann allerdings auch nichts mehr.

Susanne Polig

nächste Vorstellungen: 28. und 29. Oktober, 1., 2. und 3. November jeweils um 20.30 Uhr