montagskolumne: meinhard rohr zur lage der nation im spiegel seines wissens
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O tempora, o mores – jede Zeit hat ihr Moratorium, wie der Lateiner zu sagen pflegt. Gestern Morgen wachte ich auf, sah auf meinen Wecker, meine Uhr und mein Zeiteisen, und dann dämmerte es mir: Das Dunkel, die Finsternis, die Nacht sind wieder da. Draußen war es zwar hell, aber eine Stunde später als am Tag zuvor. Die Winterzeit stakste wie eine aufgetakelte Blondine mit eiligen Schritten ins Zimmer und strich mir über den Bauch. Eine taktile Erfahrung, die mich an den Sommer in Berlin-Mitte erinnerte. Oder tickte ich nicht mehr ganz richtig? Schon als Kind fühlte ich mich oft sehr alt, wenn die Zeitumstellung bevorstand. Und 1968, als ich leider noch zu den Linken gehörte, blieb die Zeit für mich ganz stehen. Zeit ist eine ästhetische Ware, wie schon Horkheimer in seiner „Minima Moralia“ nachwies. Heute ist Zeit eine ökonomische Ware, die eine globale Beschleunigung durchmacht und mir manchmal den Boden unter den Füßen wegreißt, wenn ich den Klopfzeichen der Zeit lausche.

Diese Kolumne erscheint in loser, aber leider häufiger Folge.