Endorphinjunkies unter Tage

Spärlich beleuchtet, höllisch glatt profiliert wie ein Gebirge, auszehrend warm und zermürbend trocken – kurzum: Dererste Untertage-Marathon im Sonderhäuser Brügmann-Kalischacht war genau nach des Extremsportlers Geschmack

aus dem Stollen MARKUS VÖLKER

Bei Kilometer 33 kommt er endlich, der Endorphinstoß. Vom Körper produziertes Glück flutet durch die Adern von Berthold Becker. Zusammen mit seinen Mitläufern singt er, angestachelt von den morphiumähnlichen Hormonen, eine Hymne auf sich selbst. „We are the champions“, intonieren sie 700 Meter unter der Erde, in einem Kalischacht, spärlich beleuchtet, höllisch glatt, profiliert wie im Gebirge, auszehrend warm (26 Grad) und zermürbend trocken (25 Prozent Luftfeuchtigkeit). Es soll nicht lang gehen mit der Singerei, denn der steilste Anstieg wartet und will zum vierten Mal genommen werden. 18 Prozent geht es rauf, sogar Radprofi Lance Armstrong muss bei solchen Rampen aus dem Sattel. „Du Scheißberg, dich schaffen wir auch noch“, schreien sie dann in die Dunkelheit hinein.

„Unser Niveau ist zum Schluss hörbar gesunken“, rechtfertigt Becker später den Gefühlsausbruch an dem neuralgischen Punkt, der für die meisten nur gehend zu überwinden war. Zu allem Übel wurde auf der letzten der 10,5 Kilometer langen Runden der Sauerstoff knapp. Das machte die Ermatteten und Müden recht lustig und unbeschwert. So ließ sich die Marter besser ertragen, denn „die Strecke war gnadenlos hart, wir mussten uns unterwegs gegenseitig aufbauen, weil wir das Profil total unterschätzt haben“, sagt Becker, Läufer aus Wetzlar, der mit seinen Freunden vom Lauftreff nach Sondershausen in Thüringen in den Kalischacht „Brügman“ eingefahren war, um am Samstag den „1. Untertage-Marathon“ zu laufen. Bis 1990 wurde im Schacht Salz für Düngemittel gefördert, heute wird es als „Erlebnisbergwerk“ genutzt – und als Lagerstätte von Sondermüll.

In der Eigenwerbung der Veranstalter hieß es: „Weltweit einziger Marathon in 700 Meter unter Tage“. Anfangs hatten sie schreiben wollen: „Lauf zum Mittelpunkt der Erde.“ Das Motto kam ihnen dann aber doch zu kitschig vor. Egal wie, die Wetzlarer Marathonis wollten im Schacht dabei sein – keine Frage für leidenschaftliche Sammler von Langstreckenläufen. „So was macht uns Spaß“, sagten sie, „wir meiden ja eher die Massen der Stadtmarathons.“ Im Schacht traf sich dann auch der exklusive Kreis der Extremläufer, von denen jeder mindestens zehn Marathons in den Knochen hat, allesamt Endorphinjunkies, alte Hasen mit extremen Bewegungsdrang. Man kennt sich von diversen Unternehmungen in der Wüste, vom Swiss Jura Marathon (323 km in sieben Etappen) und anderen Verrücktheiten.

„Das hier bringt uns den besonderen Kick, das ist wirklich mal was Außergewöhnliches“, freut sich Becker vor dem Lauf, bei dem er einen Fahrradhelm (Vorschrift!) auf hat und eine Taschenlampe dabei, ein wichtiges Utensil, denn Lampen hängen keineswegs überall an den Kali-Trassen. Manchmal tauchen die Läufer in eine beängstigende Finsternis ein, die am besten im Grüppchen bewältigt wird. Becker: „Allein laufen ist unter Tage psychisch wahnsinnig anstrengend. Manchmal glaubten wir uns schon verirrt zu haben.“

110 Starter gehen auf den Kurs, darunter 8 Frauen. Starter aus England, Polen, den Niederlanden sind dabei und haben die 30 Euro Startgebühr entrichtet. „Lauft mit Köpfchen“, warnt Veranstalter Olaf Kleinsteuber vom SC Impuls Erfurt das Feld vor dem Start, „geht nicht ans Äußerste.“ Zur Sicherheit ist eine Fahrradstaffel des Arbeiter-Samariterbundes unterwegs. Alle vier Kilometer wartet ein Verpflegungsstand. Viel trinken ist das Gebot, um in der trockenen Luft nicht auszudörren.

Becker und seine Freunde gehen es gemächlich an, keine schlechte Entscheidung, hat sich doch einer aus der Truppe beim Warmlaufen auf dem teils eisglatten Salzboden den Oberschenkel gezerrt. Sie wussten ohnehin, dass es Schrammen geben könnte; auf dem Anmeldebogen ist ein Foto zu sehen, darauf ein Starter mit blutigem Knie. Jeder musste eine „Einverständniserklärung“ abgeben, für den Fall von Verletzungen. Doch bis auf Kleinigkeiten kommen alle heil durch, an den besonders heiklen Rutschbahnen sind Helfer postiert, die den griffigen Weg weisen.

Berthold Becker kommt nach knapp fünf Stunden ins Ziel und somit rund eindreiviertel Stunden hinter Torsten Kunath aus Gera, dem Sieger. Becker fühlt sich dennoch „erstaunlich gut“. Das langsame Tempo erleichtere die Regeneration, erklärt er danach – und sucht dabei bereits wieder nach den Meldelisten fürs nächste Jahr.

Die Mannen aus Hessen haben übrigens nicht ohne Grund mit ihren Kräften gehaushaltet: Gestern sind sie als Draufgabe noch mal 42,195 km gelaufen, diesmal über Tage, beim Frankfurt-Marathon. Und am kommenden Wochenende werden sie nicht etwa ausspannen und sich von den Strapazen der Dauerbelastung erholen, ganz im Gegenteil: Bei den 50 Kilometern von Bottrop wollen sie so richtig die Sau rauslassen.