Am Ende bleibt nur der Glaube

Die Herkunft des Knochenkastens, der die Existenz des Jesus von Nazareth beweisen soll, ist dubios. Indizien für und gegen die Echtheit des Funds

von PHILIPP GESSLER

Die Kalksteinkiste ist etwa 50 Zentimeter lang, leer, schmucklos, rund 1.950 Jahre alt. Ein Ossarium. Solche Knochenkästen waren von etwa 20 bis 70 n. Chr. im Heiligen Land als letzte Grabstätte der Gebeine von Toten nicht unüblich. Doch um diesen einen ist unter Archäologen ein Streit entbrannt, genauer: um seine Gravur. Auf Aramäisch, der Lingua franca unter den damaligen Juden Palästinas, steht dort in hebräischen Buchstaben von rechts nach links zu lesen: „Ya’akov bar Yosef akh di Yeshua“. Übersetzt: „Jakob, Sohn des Joseph, Bruder des Jesus“. Lagen in diesem Ossarium die sterblichen Überreste des Bruders von Jesus von Nazareth?

Das wäre eine Sensation. Schon gibt es Forscher, die den Fund mit den 1947 entdeckten Schriftrollen von Qumran am Toten Meer vergleichen, die vor 68 n. Chr. entstanden sein müssen. Sie umfassen große Teile des Alten Testaments und liefern immer neue Erkenntnisse über die Bibel und die Zeit Jesu.

Jakob hieß der Leiter der urchristlichen Gemeinde Jerusalems nach dem Tode Jesu. Er wurde als Häretiker 62 n. Chr. gesteinigt. An mehreren Stellen des Neuen Testaments wird er „Bruder des Herrn“ genannt (unter anderem von Paulus im Galaterbrief, 1,19). Auch der römisch-jüdische Historiker Josephus Flavius nennt ihn so. Wenn nun tatsächlich dieser Jakob in dem Ossarium lag, beweist es, dass die biblischen Gestalten Jakob, Jesus und dessen (Stief-?)Vater Joseph wirklich gelebt haben – bisher findet man ihre Namen nur auf jüngeren, zumeist christlichen Manuskripten.

Bloß: Ist das Ossarium wirklich so alt? Auch seine Inschrift? Und wenn ja: Was deutet darauf hin, dass die genannten drei Personen mit denen im Neuen Testament identisch sind?

Israelische Geologen haben laut einem Artikel im US-Fachmagazin Biblical Archeology Review nachgewiesen, dass das Ossarium aus der Mitte des 1. Jahrhunderts stammt. An ihm seien keine Eingriffe aus jüngerer Zeit festgestellt worden, hieß es auf einer Pressekonferenz der Zeitschrift. Auch der Stil der Schrift „passt perfekt“, so der Aramäisch-Experte Joseph Fitzmyer, ein emeritierter Professor an der Katholischen Universität von Washington, der Fotos des Knochenkastens studieren konnte. Das Problem aber sind die Namen. Die nämlich waren im Jerusalem der Epoche vor der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. durch die römischen Besatzer Palästinas sehr populär. Das räumt der Leiter der Untersuchung, André Lemaire, ein. Der Schriftenexperte von der Pariser Sorbonne, der das Ossarium auf das Jahr 63 n. Chr. datiert, schätzt, dass es unter den damals rund 40.000 Einwohnern der Stadt Davids rund 20 Jakobs gab, die einen Vater mit Namen Joseph und einen Bruder Jesus hatten.

Das Besondere aber ist, dass überhaupt ein Bruder genannt wird. Von den hunderten von Ossarien, die er kenne, so Lemaire, sei das nur bei einem weiteren der Fall. Der Name eines Bruders sei nur dann anzutreffen, wenn er berühmt war. Deshalb hält Lemaire es für „sehr wahrscheinlich“, dass der genannte Jakob nur der Bruder des damals durchaus bekannten Jesus von Nazareth gewesen ist.

Doch einige Kollegen Lemaires, ebenso angesehen wie er, halten dagegen. Zu ihnen gehört etwa der Bonner Alttestamentler Heinz-Josef Fabry. Er hält den Fund für „außerordentlich fragwürdig“, wie er umgehend öffentlich erklärte. Was die Kritiker neben der „zu perfekten“ Gravur vor allem stört, sind die Umstände der Entschlüsselung: Lemaire gibt an, ein ihm bekannter privater Sammler habe ihn in Jerusalem im Frühjahr angesprochen. Er wolle ihm ein Ossarium zeigen, das er vor 15 Jahren für ein paar hundert Dollar aus zweifelhafter Quelle gekauft habe: Herkunft unbekannt (was allerdings in der Archäologie nicht selten ist). Während er, Lemaire, die Bedeutung des Fundes sofort erahnte, habe der Sammler dies nicht ermessen. Er sei ein Jude, der aus Angst vor Reportern und religiösen Fanatikern anonym bleiben wolle.

In gewisser Weise ist die Kalksteinkiste mit ihrer umstrittenen Gravur wie ein Symbol für das Christentum als Ganzes: Am Ende bleibt nur der Glaube. Und selbst wer an die Echtheit des Gebeinkastens glaubte – für den Glauben an eine Göttlichkeit des Jesus von Nazareth hilft auch der Fund nicht weiter. Oder, um es mit dem unerreichten Pathos und Kitsch der Bild-Zeitung zu sagen: „Nur wenn wir an Jesus glauben, hat der Sohn Gottes gelebt und für uns gelitten. Amen.“