Nervengas? Spezialgas? Der Kreml schweigt

Welche Giftstoffe genau russische Spezialeinheiten einsetzten, bleibt vorerst unbekannt. Experten spekulieren über neue Gaskombination

BERLIN taz ■ Lange verweigerten die russischen Behörden jede Auskunft über die chemische Zusammensetzung und die Konzentration des Gases, das bei der Aktion zur Befreiung der Geiseln eingesetzt wurde. Man beschränkt sich auf Kennzeichnungen wie „Schlafgas“ oder „Spezialgas“. Medizinische Hilfskräfte, die nach der Befreiungsaktion im Theatersaal tätig wurden, sahen vor allem schlafende Menschen, beobachteten aber außerdem Fälle von Übelkeit, Erbrechen und Halluzinationen. Am Sonntagabend schließlich behaupteten die Moskauer Gesundheitsbehörden, es habe sich um übliches Narkosegas gehandelt. Wenn dies stimmen solle, lassen die Folgen auf eine starke Überdosierung schließen.

Verschiedene andere Hypothesen wurden seit Samstag von Experten geäußert. Alle in den USA Befragten waren sich einig, dass ohne detaillierte Angaben eine genaue Bestimmung unmöglich sei. Frederick Sidell, ein früherer Waffenspezialist der amerikanischen Armee, äußerte die Vermutung, bei dem Gas könne es sich um eine Substanz handeln, die dem amerikanischen „BZ“ ähnlich sei, einer Valiumkomposition, die sofort in Schlaf versetze und auch Halluzinationen hervorrufe.

Der Waffenexperte Pavel Felbengauer vermutete demgegenüber, es handle sich um einen neu entwickelten Kampfstoff aus bislang industriell und landwirtschaftlich genutzten Komponenten. Er sei seitens von der Armee übernommen worden, die ihn schon in Tschetschenien eingesetzt habe. Nach dieser auch von westlichen Geheimdiensten geteilten Version wirkt das neu entwickelte Gas bei entsprechender Dosierung sofort tödlich. Es habe außerdem die Eigenschaft, sich sehr rasch zu verflüchtigen.

Während es über letztere Hypothese noch keine Debatte gab, wurde gegen die Valiumthese eingewandt, dass die Wirkungen von BZ in hohem Maße unvorhersehbar seien und es auch gegenteilige Effekte wie Hyperaktivität hervorrufen könne.

Auch der israeliche Anästhesieexperte Joel Donchin hielt es für ausgeschlossen, dass gewöhnliche Betäubungsmittel eingesetzt worden sind. Seine Ferndiagnose: Nervengas. Sein Kollege, der Anästhesist Leonid Idelmann, vermutete, es handle sich um eine Acetonverbindung. Dies erkläre, dass die Menschen im Konzertsaal sofort das Bewusstsein verloren, als das Gas durch die Luftschächte eindrang.

In Russland wie in den USA wird auch nach dem Verbot chemischer Waffen in der Grauzone geforscht, die mit „non lethal weapons“ beschrieben wird. Als „nichttödliche Waffen“ werden solche definiert, die nicht mehr als ein Prozent der ihrer Wirkung ausgesetzten Menschen töten oder schwer verletzen. In dem amerikanischen „Sunshine-Projekt“, das sich gegen diese Forschungen in den USA wendet, spricht man von „calmatives“ (Ruhigstellungsgasen) und „convulsants“ (krampfauslösenden Gasen). Das internationale Verbotsabkommen verbietet die Herstellung und Lagerung solcher Waffen. Allerdings sei, wie der deutsche Abrüstungsexperte Ottfried Nassauer gegenüber der taz betonte, zwischen dem Verbot der Anwendung nichttödlicher Waffen in zwischenstaatlichen Konflikten und der innerstaatlichen Verwendung zur Bekämpfung von gewalttätigen Demonstrationen etc. zu unterscheiden. Nur Erstere sei durch das Abkommen strikt verboten.

Nach Jonathan Tucker, einem Chemiewaffenexperten und jetzigen Mitglied des US-Institute of Peace in Washington hingegen muss eine klare Trennungslinie zwischen Mitteln der „riot control“ und solchen gezogen werden, die Menschen für Stunden außer Gefecht setzen. Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international haben bereits Zweifel geäußert, ob der Gaseinsatz von Moskau ein angemessenes Mittel innerhalb des Gesetzes gewesen sei. Die Sprecherin von Amnesty, Judith Arena, forderte die russische Regierung auf, alle Details des Einsatzes offen zu legen.               CHRISTIAN SEMLER