Diskutierte Körper

Nacktheit im Zeitalter der Psychoanalyse: Die Emder Kunsthalle präsentiert im großen Stil den „Akt in der Kunst des 20. Jahrhunderts“

Auch wenn die Hassliebe gegen den eigenen Körper alle neuere Kultur färbt (Adorno), der Anblick nackten Fleisches hatte wohl immer etwas Prickelndes. In Zeiten erschöpfender Körperbetätigungen auf dem langen Lauf zum eigenen Selbst macht auch die Kunst in Körperkultur. „Eine Akt-Ausstellung lag in der Luft“, meint Ilka Erdwiens aus der Geschäftsführung der Kunsthalle in Emden zum neusten Projekt, „Der Akt in der Kunst des 20. Jahrhunderts“.

Über 90 KünstlerInnen stellen über 200 Bilder, Zeichnungen, Videos, Fotos und Skulpturen zum Thema aus. Sex sells? „Wir haben nicht an die voyeuristische Seite der Ausstellung gedacht“, wehrt sich Ilka Erdwiens. Tatsächlich ist Reißerisches in Emden nur in Einzelfällen zu finden. Rodin zerrt an einem Frauentorso die Vagina in den Mittelpunkt: So gibt die Kunst Positionen für einschlägige Fotos in Sex-Magazinen vor. Einen „Sündenraum“ für Pornografie, wie bei der aktuellen Newton-Ausstellung in der Düsseldorfer Hans Mayer Galerie, gibt es in Emden allerdings nicht.

Spektakulär sind die Namen der ausgestellten Künstler: Picasso, Renoir, Rodin, Giacometti, Moore, Rainer, Munch, Mappelthorpe, Schiele, die hauseigenen Expressionisten Heckel, Kirchner bilden ein Patchwork der Kunst des 20. Jahrhunderts. Ausstellungsmacher Nils Ohlsen ordnet die Exponate sieben Themenkomplexen zu: Akttradition und Diskurs, Akt und Natur, Akt und Gesellschaft. „Wir wollten bewusst keine chronologische oder stilistische Zuordnung, sondern Diskussionsvorschläge anbieten“, so Ohlsen.

Kunstgeschichtlich ist der ausschließliche Zugriff auf die Kunst des 20. Jahrhunderts gewagt, denn viele Emder Exponate beziehen sich auf klassische Vorbilder. Es wäre reizvoll gewesen, die Wandlung des Frauenbildes (und Menschenbildes) über die Jahrhunderte hinweg zu zeigen. „Die industrielle Revolution und die Psychoanalyse haben im 20. Jahrhundert das Menschenbild völlig verändert, in diesem Zusammenhang ist auch die Kunst neue Wege gegangen“, rechtfertigt Ohlsen den Emder Zugriff und unterstreicht die ästhetische Ausrichtung der Kunsthalle auf die Kunst des 20. Jahrhunderts.

Auf jeden Fall spannend ist die Kombination verschiedener Medien. Während ein Akt im Gemälde immer noch distanziert wirkt, geht ein Akt in der Fotografie unter die Haut. Mann/Frau scheint „dabei“ zu sein, mit der dargestellten Figur zu kommunizieren. Atemberaubend wird es, wenn sich die älteste Künstlerin der Ausstellung, Maria Lassnig, 82, mit der jüngsten, Jenny Saville, 32, trifft. Beide behandeln das Thema des körperlichen Verfalls, beide arbeiten mit Selbstporträts. Lassnig betrachtet sich erstaunt im Spiegel und träumt sich zaghaft in andere Körper. Saville schreit ihre Verzweiflung und ihre Wut heraus. Der Verlust von Körperlichkeit wird bei ihr als Gewalt empfunden.

Lassnig und Saville sind Ausnahmen in der Emder Präsentation, zeigen sie doch vermeintlich „Unschönes“. Ebenso wie Marc Quinn: Der nimmt seinen alten Körper und zieht ihm in einer hängenden Gipsform gleichsam das Fell über die Ohren. Häutung, Folter, Zitat früher christlicher Malerei?

Ansonsten folgt die Ausstellung hauptsächlich dem männlichen Blick auf die Körper in der Regel „schöner“ Frauen. Männer mühen sich ab, „ewig Weibliches“ zu fassen ohne es begreifen zu können. Trotzdem benutzten sie den weiblichen Körper auch im 20. Jahrhundert als Projektionsfläche für ihre Spekulationen. In wenigen Fällen dient der weibliche Akt als „Material“ ästhetischer Formensuche und -gestaltung, etwa bei Picasso, Renoir oder Giacometti. Aber just bei diesen Herren wäre es ein Kunstfehler, Leben und (Akt-) Malerei trennen zu wollen.

Thomas Schumacher

Die Öffnungszeiten von „Der Akt in der Kunst des 20. Jahrhunderts“ in der Emder Kunsthalle sind: So, Mi, Do, Fr von 11 bis 17 Uhr, Di 10 bis 20 Uhr, Mo geschlossen. Katalog (248 Seiten): 35 Euro. Weitere Infos: www.kunsthalle-emden.de