Der Mantel vor der Realität

Mechthild ist Psychologin und nur zufällig Suchtberaterin. Den Konsum betrachtet sie zunehmend als „Selbstmedikation“ gegen soziale Kälte. Dass Heroin eine aussterbende Droge ist, bezweifelt sie

von ROBERT MEYER

Seit 12 Jahren arbeitet die Psychologin Mechthild Beitlich mit Drogenabhängigen. Die zierliche 46-Jährige kam eher durch Zufall dazu. Nachdem sie eine Weile als Knastpsychologin tätig war, suchte sie ein Projekt, „in dem es basisdemokratisch zugeht“. Gefunden hat sie dies in der Kreuzberger Drogenberatungsstelle Misfit in der Schlesischen Straße.

Heroinabhängigkeit ist für Mechthild hauptsächlich der Versuch, unaufgelöste Spannungen mit Drogen zu behandeln. „Selbstmedikation“ sagt sie dazu. Besonders suchtmittelabhängige Frauen sind ihr ein Beleg dafür. Sie hätten oft schon früh in ihrem Leben körperliche und seelische Missbrauchserfahrungen wie Vergewaltigungen, Demütigungen und Prügel gemacht. „Realitäten, die schwer auszuhalten sind und Menschen dazu bringen, sich selbst nicht mehr fühlen zu können und zu wollen.“ Angst essen Seele auf.

Dass Heroin eine aussterbende Droge ist, bezweifelt sie deshalb. Die Droge sei wie ein Mantel, der das Erleben bedrohlicher Realitäten fern hält, und nach einem solchen werden Menschen besonders in Zeiten sozialer Kälte immer verlangen. Mechthild betrachtet die Drogenszene deswegen als Spiegel, der gesellschaftliche Zustände abbildet. Tendenzen daraus abzulesen, erlebt sie als spannenden Prozess.

Zwei Entwicklungen beobachtet die Psychologin derzeit: Als positiv erfährt sie die zunehmend sachlicher werdende Diskussion um die Angebotsvielfalt in der Drogenhilfe. „Die Forderung nach Druckräumen zum Beispiel wurde in Berlin lange ignoriert und heftig bekämpft.“ Weniger schön dagegen sind für sie die steigenden Anforderungen von Arbeits- und Sozialämtern an ihre Klientel. „Können sie wegen ihrer Schwierigkeiten denen nicht nachkommen, werden Leistungen gekürzt, und dies bedeutet für sie kaum zu bewältigende Probleme. Ein Übernachtungs- und ein Essenschein, Minimalstandard der Sozialämter, ermöglicht kein menschenwürdiges Leben.“ Soziale Ausgrenzung durch höhere Anforderungen – so beschreibt sie diesen Prozess.

Zwei stationäre und ein mobiler Druckraum sollen ab der ersten Hälfte des kommenden Jahres schwer Drogenabhängigen die Möglichkeit geben, Suchstoffe unter sauberen Bedingungen zu konsumieren. Medizinisch geschultes Personal leistet bei Bedarf Hilfe. Laut Wolfgang Nitze, Suchkoordinator der Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, wird ein Druckraum in der Nähe des Kottbusser Tors sein, der andere im Umfeld der Turmstraße. Der mobile Druckraum, wahrscheinlich vom Drogenhilfeverein Fixpunkt betrieben, soll Suchtmittelbrennpunkte ansteuern. Für die Finanzierung des Projekts stehen in diesem Jahr 29.000 Euro und im nächsten Jahr 170.000 Euro zur Verfügung.

Die zum Teil heftig geführte Diskussion um das Für und Wider von Druckräumen habe zwar nicht an Schärfe verloren, in letzter Zeit aber, so Nitze, sei das Verständnis für die Notwendigkeit solcher Orte spürbar gewachsen. Vorerst sollen alle drei Druckräume insgesamt nur 40 Stunden in der Woche geöffnet haben. 20 Stunden der mobile und jeweils 10 Stunden die stationären Räume. Jeder biete drei bis fünf Plätze. Die zeitlich wie räumlich beschränkten Kapazitäten erforderten „eine sensible Einlasssteuerung“. Wer reindarf, wer nicht, darüber müsse noch eine Fachdiskussion geführt werden.