„Arbeit war mehr als nur Job“

Genossenschaften erziehen zu Eigenverantwortung. Das ist es, was strukturschwachen Regionen in Ostdeutschland weiterhilft, meint die Ökonomin Delal Atmaca

taz: Jährlich fließen Milliarden in den Aufbau Ost. Zugleich wandern immer mehr Menschen ab in den Westen. Machen die Transfers überhaupt Sinn?

Delal Atmaca: Die künftigen Aufbau-Ost-Gelder müssten viel stärker auf die Besonderheiten der einzelnen Regionen zugeschnitten sein. Eine sinnvolle Regionalpolitik zielt ab auf die Entfaltung des Potenzials der dort lebenden Menschen. Auf Knopfdruck von oben können Regionen nicht entwickelt werden. Diesen Fehler haben wir lange Zeit in Ostdeutschland erlebt. Milliarden von Fördergeldern wurden nach neoklassischer Logik von außen reingepumpt: Mehr Outputwachstum fordert mehr Inputwachstum. Sinnvoller wäre es aber gewesen, die Ideen der Menschen vor Ort stärker zu unterstützen. Sie sind durchschnittlich sehr gut ausgebildet und kreativ.

Sie plädieren für die Förderung von Produktivgenossenschaften. Warum?

Genossenschaften beruhen klassisch auf Selbsthilfe: Menschen organisieren sich, weil sie nicht erwarten, dass sie externe Hilfe für ihr Problem bekommen. Sie tragen Risiken gemeinsam – und teilen die Vorteile. Sie nutzen also ihr eigenes Potenzial. Und genau das ist wichtig für jede regionale Entwicklung. Genossenschaften sind schon aufgrund ihrer Struktur regional gebundene Unternehmen. Sie können nicht einfach umziehen wie andere Unternehmen, die dahin gehen, wo sie die höchste Rendite erwirtschaften; die Mitglieder leben und arbeiten ja schließlich in der Region.

Zu DDR-Zeiten gab es ja relativ viele Genossenschaften, gerade auch Produktivgenossenschaften. Warum sind die verschwunden?

Wäre es nach den Banken und den Beratern aus dem Westen gegangen, gäbe es heute wohl keine einzige Genossenschaft mehr in Ostdeutschland. Für jene waren das nur Relikte des Sozialismus. Dabei haben die Produktivgenossenschaften, die sich dennoch fürs Weitermachen entschieden haben, oft eine gute Entwicklung genommen und eine stabilisierende Wirkung für ihre Region gehabt. Sie haben Arbeitsplätze erhalten und neue geschaffen. Dies übrigens gerade auch in den Krisenbranchen Bau oder Friseurhandwerk. Ich bin mir sicher, dass Selbsthilfe und kooperative Unternehmensformen in Ostdeutschland viel stärker wären, wenn sie nicht so stark benachteiligt, ja bisweilen gar diskriminiert würden. Denn gerade dort ist das Potenzial für kooperative Selbsthilfe sehr groß. Das zeigte sich im Sommer am Umgang mit der Flut in Sachsen und Sachsen-Anhalt.

Inwiefern?

Die ostdeutsche Kultur ruhte stark auf kollektiven Bezügen in Nachbarschaft und Betrieben. Arbeit war mehr als bloßer Job – es war Ort und Quelle zentraler sozialer Beziehungen. Die Leute waren aufeinander angewiesen, es gab sozialen Zusammenhalt. Viele Leute leiden heute darunter, dass mit der Arbeitslosigkeit mehr verloren wurde als „nur“ ein Arbeitsplatz.

Wie sieht die Diskriminierung von Genossenschaften konkret aus?

In Gründungsberatungsstellen bei Wirtschaftsförderung, Kammern, Anwaltsbüros und so weiter wird die Genossenschaft nicht als eine mögliche Alternative präsentiert. In meinem Jurastudium etwa war im Gesellschaftsrecht stets von AG oder GmbH die Rede – aber nie von Genossenschaften. Banken raten oft sogar nachdrücklich von der Gründung einer Genossenschaft ab, selbst dann, wenn Menschen mit dem ausdrücklichen Anliegen einer Kollektivgründung kommen. Banken wollen einen einzigen verantwortlichen Ansprechpartner; bei einer Genossenschaft gibt es aber mindestens sieben Gesellschafter, die gemeinsam entscheiden – und haften. Auch viele Förderinstrumente können von Genossenschaften nicht genutzt werden.

INTERVIEW: ANNETTE JENSEN