Wandel, ohne Angst vor Glück

aus Porto Alegre GERHARD DILGER

Am Wahltag feierte er Geburtstag. 57 Jahre alt wurde der Werkzeugmacher Luiz Inácio „Lula“ da Silva am Sonntag. Und im vierten Anlauf wurde er an diesem Tag zum Präsidenten Brasiliens gewählt. Am 1. Januar 2003 wird er das Amt antreten. Fast 53 Millionen BrasilianerInnen stimmten in der Stichwahl für den Ehrenpräsidenten der Arbeiterpartei PT – damit erzielte Lula ein Traumergebnis von 61,3 Prozent. Sein Kontrahent, José Serra von der regierenden Sozialdemokratischen Partei Brasiliens (PSDB), musste sich mit 38,7 Prozent der gültigen Stimmen geschlagen geben.

Damit ist Lula Stimmenweltmeister: George Bush brachte es vor zwei Jahren nur auf 50,5 Millionen, Wladimir Putin auf 39,7. Wie einen Weltmeistertitel feierten Millionen Brasilianer den Machtwechsel. In São Paulos Finanzzentrum, der Avenida Paulista, wurde Lula von 100.000 Anhängern bejubelt.

„Die Hoffnung hat die Angst besiegt“, sagte ein strahlender Lula in seiner ersten Rede nach dem Wahlsieg. Und in Abwandlung seines Wahlslogans aus dem Jahr 1989 fügte er hinzu: „Brasilien hat sich gewandelt ohne Angst davor, glücklich zu sein“ – eine deutliche Anspielung auf die monatelange Unruhe auf den Finanzmärkten. Und: „Der Markt muss wissen, dass die Brasilianer das Recht haben, dreimal am Tag zu essen.“

Zwischen zwei Fronten

So benannte Lula den Konflikt, vor dem von nun an steht: den Sparkurs der Regierung Cardoso fortzusetzen, wie es der Internationale Währungsfonds verlangt – oder den Erwartungen seiner Anhänger nachzugeben, die eine rasche Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse wollen. Der PT-Linke und Kopf der Landlosenbewegung MST, João Pedro Stedile, drückt es so aus: „Nicht wir werden Lula die größten Kopfschmerzen verursachen, sondern das nordamerikanische Kapital in all seinen Ausformungen: die Banken, der IWF, die Weltbank und die Welthandelsorganisation.“ Seine Befürchtung: „Wenn Lula versucht, das Volk zu täuschen, indem er es um Geduld bittet, wird er enden wie Fernando de La Rúa.“ Der letzte gewählte Präsident Argentiniens musste im vergangenen Dezember trotz eines ultraliberalen Wirtschaftskurses den Staatsbankrott erklären und anschließend seinen Hut nehmen.

Die Märkte haben zunächst positiv auf Lulas Sieg reagiert. Was sich als Tendenz an den lateinamerikanischen Börsen schon in den Tagen vor der Wahl abzeichnete, nahmen die europäischen Finanzmärkte gestern auf: Brasilianische Anleihen und die Landeswährung Real legten zu.

Lula hatte bereits in den letzten Tagen versucht, übertriebene Erwartungen zu dämpfen. Sein Chefstratege, der PT-Vorsitzende José Dirceu, wurde deutlicher: 2003 wird ein Krisenjahr, sagte er noch vor der Wahl. Eine Regierung Lula werde den vom IWF geforderten Haushaltsüberschuss von derzeit 3,75 Prozent anstreben und die Inflation unter Kontolle behalten, sagte Dirceu. „Wir brauchen eine Übergangszeit, um die Wirtschaftspolitik verändern zu können.“ Heute will Lula die Namen jener Wirtschaftsberater bekannt geben, die gemeinsam mit der jetzigen Regierung für einen ruhigen Wechsel sorgen sollen.

Wegen des hohen Schuldendienstes stehen im kommenden Jahr nur 2 Milliarden Dollar für Staatsinvestitionen im Sozialbereich zur Verfügung. Absolute Priorität genießt dabei Lulas Anti-Hunger-Projekt „Zero Fome“, mit dem er 50 Millionen arme BrasilianerInnen erreichen will. Um Haushaltsgelder zu sparen, will Brasilien hierfür seinen Mercosur-Partnern Argentinien, Paraguay und Uruguay einen Tauschhandel vorschlagen: Konsumgüter, Autos und landwirtschaftliche Maschinen gegen Weizen, Milch und Reis.

Präsident aus dem Armenhaus

Der neu gewählte Präsident stammt aus dem Armenhaus Brasiliens, dem nordöstlichen Bundesstaat Pernambuco. Als Lula sieben Jahre alt war, zog seine Mutter mit ihm und sieben Geschwistern in die Industriemetropole São Paulo im Süden – schon damals hofften Millionen armer Brasilianer auf ein besseres Leben in den Großstädten. Lula wurde Laufjunge und Schuhputzer, Lesen und Schreiben lernte er als Zehnjähriger. Schließlich konnte er eine Ausbildung zum Werkzeugmacher absolvieren.

In der brutalsten Phase der Militärdiktatur (1964–1985) engagierte sich Lula in der Metallgewerkschaft und kam für ein paar Wochen in Haft. Als Gewerkschaftschef suchte er ab 1975 den Dialog mit den Generälen und organisierte große Streiks, durch die das Regime zur demokratischen Öffnung gedrängt wurde.

1980 gehörte er zu den Gründern der Arbeiterpartei. Er war Abgeordneter des Nationalparlaments, Mitglied der verfassunggebenden Versammlung und trat 1989, 1994 und 1998 erfolglos als Präsidentschaftskandidat an. Aus dem ehemaligen Bürgerschreck mit schwarzem Rauschebart und flammender Rhetorik ist ein souveräner Staatsmann geworden.

„Ich glaube, Brasilien kann auf dem amerikanischen Kontinent eine herausragende Rolle für den Frieden spielen“, kündigte der gewählte Präsident überraschend bereits am Sonntag an. Konkreter wurde Marco Aurélio García, sein Sprecher für internationale Beziehungen, gegenüber der Tageszeitung El Tiempo aus Bogotá: Die kommende Regierung wolle eine vermittelnde Rolle im Kolumbienkonflikt spielen – so es der kolumbianische Präsident Álvaro Uribe wünsche. Die regionalen Auswirkungen des Plan Colombia, des von Washington finanzierten Anti-Drogen- und -Guerilla-Programms, seien „beunruhigend“, meinte García.

Die Lehren von Porto Alegre

Was dem so erfolgreichen Wahlsieger im heimischen Brasilien in den nächsten Jahren bevorstehen könnte, zeichnete sich in der Niederlage seiner Parteifreunde in ihrer Hochburg Porto Alegre ab: Nach vier Jahren müssen sie im Januar die Landesregierung von Rio Grande do Sul an den Bürgerblock übergeben, dessen elf Parteien diesmal geschlossen gegen die „Volksfront“ um die PT angetreten waren. Das stundenlange Fest auf dem Epatur-Platz, den Lula im letzten Monat zweimal gefüllt hatte, geriet zu einem Wechselbad der Gefühle. Zwar feierten auch hier zehntausende Fahnen schwenkender PT-Anhänger Lulas Sieg, doch als der unterlegene Lokalmatador Tarso Genro die Bühne betrat, flossen die Tränen.

Mit einigem Recht machten die Redner auch die jahrelange Hetzkampagne der lokalen Medien für ihre Niederlage verantwortlich. In den letzten Tagen wurde ganz offensichtlich Politik mit Meinungsumfragen gemacht, die dem PT-Kandidaten einen Rückstand von 16 Punkten bescheinigten – letzlich waren es nur 5.

Wichtiger sollten jedoch die Lehren sein, die die PT aus dem Scheitern ziehen könnte: Es gelang ihr nicht, eine Blockadepolitik im Parlament zu durchbrechen. Außerdem verprellte sie durch die ausschließliche Förderung von kleinen und mittelständischen Betrieben die heimische Großindustrie und die Großgrundbesitzer. Schließlich schreckte sie mögliche Bündnispartner durch eine übertrieben ideologisierte Rhetorik ab, die in seltsamem Kontrast zur durchaus pragmatischen und gemäßigten Regierungspraxis stand.

Einen positiven Aspekt wird die moderate PT-Spitze der Niederlage von Porto Alegre allerdings in aller Diskretion abgewinnen: Das innerparteiliche Kräfteverhätnis hat sich wieder ein Stück weit nach rechts verlagert.