„Die Mehrheit der Pesantren ist weiterhin moderat“

Der indonesische Bildungsaktivist Ivan A. Hadar über Entwicklung und ideologische Ausrichtung der islamischen Internatsschulen, der Pesantren

taz: Indonesiens Muslime sind mehrheitlich moderat. Welchen Einfluss haben Fundamentalisten auf die Pesantren?

Ivan A. Hadar: Bis auf die kleine Minderheit der von Fundamentalisten beeinflussten Pesantren ist die große Mehrheit weiterhin moderat. Viele indonesische Islamisten stammen aus naturwissenschaftlichen Fachrichtungen der allgemeinen Universitäten.

Ist das Pesantren Ngruki, das von dem nach den Anschlägen von Bali verhafteten Abu Bakar Bashir geführt wird, eine Kaderschmiede für Islamisten?

Ja, für militante „missionarische“ Islamisten. Es ist aber kein Ort für eine professionelle „Terroristenausbildung“. So etwas kann man nicht an einem relativ offenen Ort machen. Die Verhaftung von Bashir hat außer bei seinen Santri und einigen aus der Elite keine Proteste verursacht. Die Mehrheit der indonesischen Muslime ist weiterhin für einen säkularen Staat.

Worin unterscheiden sich Pesantren von als Madrasah bekannten Koranschulen?

Pesantren entstanden in Indonesien schon im 15. Jahrhundert und haben ihre Wurzel im hindu-buddhistischen Mandala, einem javanischen Internat. Das wurde islamisiert. Der Internatscharakter, die asketische Lebensführung, die relative Unabhängigkeit vom Staat und die Verbindung von Kopf- und Handarbeit blieben, während Unterricht in Kampfsport meist abgeschafft wurde. Die Madrasah hat ihre Wurzel in der Erneurungsbewegung des Islam durch Kontakt mit dem Westen im 19. Jahrhundert. Sie entstand in Ägypten und hat sich in Indonesien durch die 1912 gegründete „modernistische“ Muslimorganisation Muhammadiyah verbreitet. Das Madrasah-System ähnelt durch den Unterricht in Klassenräumen und durch feste Curricula dem westlichen Schulsystem. Inzwischen haben viele Pesantren auch Teile des Madrasah-Systems und des säkularen staatlichen Schulsystems übernommen. Sie kombinieren heute alle drei Systeme.

Werden Indonesiens Pesantren vom Staat kontrolliert?

Die meisten Pesantren sind privat, aber staatlich anerkannt. Jeder und jede kann Pesantren gründen, wobei sie fast immer von Männern geführt werden. Deren Frauen leiten dann oft die Ausbildung der Mädchen. In den armen Regionen Javas bieten Pesantren oft die einzige Bildungsmöglichkeit für Kinder aus sehr armen Familien. Sie verlangen kein Schulgeld für solche Kinder, die müssen dafür bei Arbeiten im Pesantren helfen. Für die staatliche Anerkennung müssen die Pesantren bestimmte Curricula, eine Quote ausgebildeter Lehrer oder eine Anzahl Klassenräume haben. Absolventen staatlich anerkannter Pesantren können an islamischen oder allgemeinen Universitäten studieren.

Haben sich die Pesantren für moderne Lehrinhalte und -formen geöffnet?

In den staatlichen Curricula ist „westliches“ Gedankengut vorhanden. Manche Pesantren haben darüber hinaus stärker als allgemeine Schulen Kurse wie Englisch durch Muttersprachler, Management, Einkommen schaffende Maßnahmen u. Ä. in ihren 24-stündigen Internatslehrplan aufgenommen.

Welchen Einfluss haben Indonesiens große Mulismorganisationen, die „traditionalistische“ Nahdlatul Ulama (NU, ca. 40 Millionen Mitglieder) und die „modernistische“ Muhammadiyah (ca. 30 Millionen Mitglieder), auf die Pesantren?

Im Islam sind die „Traditionalisten“ oft „moderater“ als die „Modernisten“. In Pesantren der „Traditionalisten“ lernen die Schüler die Prinzipien des Islam aus ihren reichen Quellen und schöpfen ihr Wissen aus mindestens vier moderaten Glaubensschulen. Diese Schüler sind gewöhnt, unterschiedliche Meinungen in religiösen Fragen zu akzeptieren. Die „Modernisten“ haben in ihrer Lehre eigentlich die Möglichkeit der individuellen freien Erforschung der Rechtsquellen. Da sie in ihrem Erbe aber nur wenig Quellen haben, sind sie kaum an pluralistische Meinungen gewöhnt, was ihre fundamentalistische Tendenz erklärt. Früher stand Muhammadiyah für Madrasah, NU für Pesantren. Jedoch haben viele Pesantren inzwischen Madrasah und allgemeine Schulen in sich aufgenommen. Die meisten Pesantren stehen der NU nahe, sind aber formal unabhängig. Inzwischen hat auch Muhammadiyah einige Pesantren gegründet.

Wie haben sich der 11. September und seine Folgen auf die Pesantren ausgewirkt?

Die Situation nach dem 11. September hat die verschiedenen Strömungen des Islam in dem Punkt „vereint“, dass sie sich vom Westen diskriminiert fühlen. Statements westlicher Politiker wurden aufgenommen als Gleichsetzung von Islam und Terrorismus. Die Wiederannäherung des Westens an das indonesische Militär durch die geplante Wiederaufnahme der Militärhilfe zwecks Terrorbekämpfung hat auch moderate Kräfte in der NU und in den Pesantren zu Protesten gegenüber dem Westen veranlasst. INTERVIEW: SVEN HANSEN