Informationspolitik à la Putin

Drei Tage nach dem Ende des Geiseldramas tauchen in Moskau immer mehr Ungereimtheiten und Spekulationen auf. Angaben über die Todesursache der Geiseln widersprechen sich. Schon wittern wieder einige die Chance, die Presse an die Leine zu legen

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Kann man sich so vertun? Die Gesundheitsbehörden in Moskau wiesen gestern Angaben der Staatsanwaltschaft zurück, die behauptet hatte, 45 Geiseln seien durch Schüsse getötet worden. Die Behörde blieb bei der Version, wonach 115 Geiseln durch Gasvergiftung starben, während lediglich zwei Opfer ihren Schussverletzungen erlagen.

Weiter ungeklärt ist das eingesetzte Gas. In der Öffentlichkeit werden wilde Spekulationen angestellt, ohne dass die verantwortlichen staatlichen Stellen es für nötig erachten würden, den Mutmaßungen entgegenzutreten. Die US-Botschaft in Moskau erklärte, laut ihren Erkenntnissen handele es sich um ein Opiat.

Warum sich Moskau dem Vorwurf aussetzt, kaltblütig den Tod weiterer Geiseln in Kauf zu nehmen, stößt auch bei der eigenen Bevölkerung auf Unverständnis. Indirekt erhalten damit die Kritiker der Befreiungsaktion Auftrieb, die von Anfang an behauptet hatten, dem Kreml ginge es in erster Linie nicht um die Rettung der Geiseln, sondern um die Liquidierung der Geiselnehmer.

Nun wäre es ein Leichtes, solch Spekulationen den Boden zu entziehen, wenn man es für nötig hielte. Details, die über den Einsatz der Rettungs- und Hilfskräfte ans Licht gelangen, schmälern das anfängliche Lob. Zumindest die zivilen Vorbereitungen waren stümperhaft. Weder waren Toxikologen vor Ort, noch reichten die Krankenwagen, sodass die Verletzten in Bussen auf dem Boden liegend abtransportiert werden mussten. Die Website des Kommersant berichtete überdies, Ärzte hätten zwischen den Leichen zufällig eine noch lebende Frau entdeckt.

Da der Kreml bereits am Mittwochabend den Entschluss einer gewaltsamen Befreiung gefasst hatte, muss die mangelnde logistische Vorbereitung stutzig machen. Warum waren keine Militärärzte zugegen, die sich auf Gasvergiftungen verstehen? Die Informationspolitik des Kreml räumt die Zweifel nicht aus. Auch die neue Professionalität des Präsidenten konnte die bangen Befürchtungen nicht zerstreuen. Er besuchte zwar die Verletzten im Krankenhaus und betonte gleich zu Beginn der Tragödie, die Rettung der Geiseln sei oberstes Gebot. Die PR-Abteilung des Präsidenten versah dies mit einem Schuss Glaubwürdigkeit, die Arbeit der anderen staatlichen Agenturen machte deren Professionalität gleich wieder zunichte.

Der dem Kreml nahe stehende Dumachef Gennadi Selesnjew dachte über ein Aufsichtsorgan nach, das Journalisten davor bewahren soll, sich aus Unvernunft „in Gefahr zu begeben“. Der Kremlideologe Gleb Pawlowski formulierte es nicht ganz so verklausuliert. Wenn die Presse zur Selbstzensur nicht fähig sei, müsse die Macht dafür sorgen.

Oleg Panfilow, Direktor des Zentrums für extremen Journalismus, teilte die Berichterstatter der Geiselnahme in zwei Lager ein. Die einen berichteten, die anderen verbreiteten „aus Liebe zur Macht nur offizielle Darstellungen. Niemand nahm sich das Rech zu kommentieren, nicht einmal, als die Macht offen die Unwahrheit sagte“.

Der Chef des analytischen Programms „Wremena“ des zentralen staatlichen Fernsehens ORT äußerte sich verwundert, dass die Intendanten der staatlichen Medien die Ausstrahlung aller Informationen zur Geiselnahme persönlich überwacht haben. So soll es auch eine Anweisung gegeben haben, die Leichen der Terroristen ständig in Großaufnahme zu zeigen, so der Kommersant. Offensichtlich will der Kreml zeigen, dass er die Situation im Griff hat. Das Boulevardblatt Moskowski Komsomolez kommentierte: „Vor Sonneuntergang wollten wir noch die Terroristen in Georgien ausräuchern, nun wissen wir, dass wir sie nicht mal in Moskau fassen können.“