Giscards Skelett für den EU-Konvent

Der Präsident des Gremiums legt dem Plenum eine Gliederung für den Verfassungsvertrag vor. Optimisten wollen sie nun mit Inhalten füllen, Kritiker sehen dagegen einen Rückschritt gegenüber dem bereits gültigen Amsterdamer Vertrag

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Der Konvent, der die Europäische Union reformieren soll, hat dieses Mal einen kleinen Ausflug in die Anatomie unternommen. Ein „Skelett“ nennt Konventspräsident Valérie Giscard d’Estaing die Gliederung für einen Verfassungsvertrag, die er dem Plenum am Montagnachmittag vorlegte. Da das 18-seitige Papier wohl seiner eigenen Feder entstammt, hatte es seinen Namen weg: „Giscards Skelett gefällt mir nicht“, maulte ein französischer Delegierter nach Lektüre.

Das Präsidium, das am Schöpfungsakt nicht beteiligt war, tröstete sich damit, dass nun ein konkretes Gerüst existiert, über das konkret gestritten werden kann. „Die Architektur liegt vor“, lobte Präsidiumsmitglied Klaus Hänsch, der der sozialistischen Fraktion im Europaparlament angehört. Es gebe zwar noch „eine Reihe blinder Stellen, Unausgegorenes und Inakzeptables im Teil über die Institutionen“, doch sei der Text von „mutigem Realismus“ geprägt.

In das Institutionenkapitel hat der Konventspräsident nach dem Motto „steter Tropfen höhlt den Stein“ seine Lieblingsidee eines Kongresses der Völker Europas eingeschmuggelt – die Absicht, das Plenum in dieser Frage zu überrumpeln, wirkt umso plumper, als alle anderen Kapitel über die künftigen Institutionen sehr allgemein gehalten sind.

„Wir werden diese Hülle mit unseren eigenen Vorstellungen ausfüllen“, kündigte der stellvertretende Konventspräsident Giuliano Amato an. Immerhin sei „Der Konvent und sein Skelett“ doch ein vielversprechender Filmtitel. Seine politische Familie, die sozialistische Partei, hätte in einer ersten Reaktion im Artikel über die gemeinsamen Werte der Union die Solidarität vermisst. Bei den Zielen fehle die Gleichberechtigung der Geschlechter und die nachhaltige Wirtschaftsentwicklung.

Der Verfassungsrechtler betonte aber, es liege nun eine Gliederung auf dem Tisch, die mit Inhalt gefüllt werden könne: „Das ist kein Text, an dem wir jetzt feilen, sondern es wird ein Text sein, den wir noch völlig neu schreiben müssen.“ Die PDS-Abgeordnete Sylvia-Yvonne Kaufmann teilt diesen Optimismus nicht. Die von Amato angemahnten Ziele stünden bereits im geltenden Amsterdamer Vertrag. Wenn Giscard sie unter den Tisch fallen lasse, „fällt es schwer, hier noch an einen Zufall zu glauben“.

Der bis zum Montag als Einzelkämpfer seiner Partei agierende grüne Delegierte Johannes Voggenhuber stolperte gleich über den ersten Artikel des Entwurfs. Dort ist von einer „Union europäischer Staaten“ die Rede, während der Amsterdamer Vertrag eine „immer engere Union der Völker Europas“ beschwört. Diese Kritik macht darauf aufmerksam, dass der Autor der Gliederung die künftige Union nur aus dem Blickwinkel der Regierungen betrachtet. Von seinem Parteifreund, dem frisch gebackenen Delegierten Joschka Fischer, bekam Voggenhuber zunächst keine Unterstützung. In einer vorsichtigen Stellungnahme nannte der deutsche Außenminister Giscards Idee eines Kongresses der Völker einen „interessanten Vorschlag, über den wir weiter nachdenken sollen“. Immerhin forderte er „eine europäische Verfassung, die den Kompromiss schafft zwischen dem Europa der Bürger und dem Europa der Staaten“. Sein erster Tag als Konventionalist, so gestand er, bewege ihn tief: „Wenn Sie vor zwei Jahren hier in Brüssel herumgefragt hätten, ob wir in so kurzer Zeit so weit kommen, hätte Ihnen jeder gesagt: Sie träumen.“

Ob der Konvent am Ende mehr als schöne Worte produzieren wird, ist offen. Von der Detailkritik jedenfalls zeigte sich Giscard d’Estaing völlig unbeeindruckt. Eine ausführlich Debatte über seine Gliederung sei zum jetzigen Zeitpunkt ohnehin nicht fruchtbar. Zunächst müssten die Ergebnisse der Arbeitsgruppen in die jeweiligen Kapitel eingearbeitet werden.

Zum Abschluss ließ der alte Herr die Delegierten wissen, dass er längst eine packende Formulierung über Werte und Ziele der künftigen Union in der Schublade habe, er wolle aber „der Spontaneität des Plenums nicht vorgreifen“. Dann aber plauderte er doch: „Liberté, Justice, Solidarité“ solle die Union sich verpflichtet fühlen. Das hätte den Vorteil, dass die Fassaden französischer Rathäuser nur unwesentlich umgepinselt werden müssten. Dort steht derzeit: „Liberté, Égalité, Fraternité“.