Milli Görüs mit neuer Führung

Mehmet Sabri Erbakan hat seine Amtsgeschäfte als Vorsitzender von Deutschlands größter islamistischer Organisation an seinen Stellvertreter übergeben. Erbakan habe sich „länger unwohl gefühlt“, heißt es. Doch ist das der wahre Hintergrund?

von YASSIN MUSHARBASH

Wochenlang war es ein Gerücht, nun bestätigt es die Zentrale der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) im nordrhein-westfälischen Kerpen. „Mehmet Sabri Erbakan hat die Führung kommissarisch an seinen Stellvertreter übergeben.“ Das erklärte der Generalsekretär der IGMG, Oguz Ücüncü, gegenüber der taz. Stellvertreter Erbakans ist Yavuz Celik Karahan. Die IGMG, der Auslandsableger der türkischen Islamisten um Mehmet Sabris Onkel Necmettin Erbakan, hat in Deutschland knapp 40.000 Mitglieder. Nach Angaben Ücüncüs ist Erbakan aber nicht zurückgetreten. Er habe sich „schon länger unwohl gefühlt und sich in Behandlung begeben.“

Doch nicht alle glauben dieser offiziellen Darstellung. In Wahrheit halte sich Mehmet Sabri Erbakan in Spanien auf, um dem Trubel um seine Person zu entgehen, behauptet zum Beispiel die türkische Tageszeitung Hürriyet. Das Boulevardblatt hatte am 14. Oktober berichtet, Mehmet Sabri Erbakan habe eine außereheliche Affäre mit einer in Deutschland lebenden Ägypterin. Necmettin Erbakan habe daraufhin seinem Neffen den „Befehl gegeben, zu verschwinden“, behauptet die Hürriyet.

Anfang November wird in der Türkei gewählt. Ücüncü wollte gegenüber der taz deswegen auch nicht ausschließen, dass die Kampagne lanciert worden sei und sich in Wahrheit gegen den Onkel, der der islamistischen Saadet-Partei in der Türkei nahe steht, richtet. „Es geht wohl nicht um Mehmet, sondern richtet sich eher gegen Necmettin Erbakan.“ Der IGMG-Generalsekretär bezeichnete Mehmet Sabri Erbakan deswegen als „Bauernopfer“.

Erbakan-Enttäuschte gibt es aber auch in Deutschland. Nicht auszuschließen, dass hinter der Affäre geschasste Funktionäre oder vermeintlich geprellte Geschäftspartner stehen könnten. Ein ehemaliger Angestellter der IGMG-Zentrale berichtete bereits 1996 gegenüber der Berliner Zeitung von schwarzen Kassen, Geldwäsche und Selbstbereicherung.

Unterdessen mehren sich die Hinweise, dass – analog zur Spaltung der Islamisten in der Türkei – auch der Milli Görüs in Deutschland die Abspaltung einer Konkurrenzorganisation droht. Vor etwa drei Wochen verabredeten nach Informationen türkischer Journalisten in Deutschland lebende Türken um den Geschäftsmann Mustafa Duran die Gründung eines Wahlunterstützervereins für die türkische AK-Partei um den Erbakan-Konkurrenten Tayyip Erdogan. Die reformorientierte und gemäßigt islamistische AK-Partei liegt in den türkischen Umfragen mittlerweile weit vor der Saadet-Partei, von der sie sich abgespalten hatte.

„Wir erwarten viele unserer Freunde aus Milli Görüs in unserem Verein“, erklärte Mustafa Duran jüngst vor türkischen Journalisten, wohl auch in der Hoffnung, dass sich viele Muslime den Deutschland-Repräsentanten der in der Türkei stärkeren Partei zuwenden werden. Ali Kizilkaya, Vorsitzender des Islamrats für Deutschland, in dem Milli Görüs die Ton angebende Mitgliedsorganisation ist, hält allerdings dagegen: „Mag sein, dass einige Unzufriedene sich dem AK e. V. zuwenden werden. Aber ich weiß, dass die Milli Görüs sich nicht spalten wird.“

Der AK e. V., der sich in Köln niederlassen will, verwies demgegenüber bereits jetzt auf 500 Mitglieder, obwohl er noch nicht einmal gegründet sei. Auch das teilte Duran den Journalisten mit. Schon bald, so hoffe er, würden es 5.000 sein. Ganz unberechtigt scheinen die Aspirationen nicht. Die Affäre um Mehmet Sabri Erbakan könnte dem AK e. V. noch einmal zusätzliche Mitglieder in die Arme treiben. Langfristig könnte der AK e. V. also den Einfluss des Erbakan-Clans in Deutschland durchaus schmälern. Die Verflechtung deutsch-türkischer Organisationen mit türkischer Innenpolitik lässt sich auf diese Weise aber wohl kaum vermindern.