Nebelkerzen aus Moskau

Propagandaschlacht nach der Geiselbefreiung. Auch Tage danach ist der Hergang nicht geklärt. Augenzeugen: Keine Geiseln erschossen. Tschetschenen behaupten, Freilassung war vereinbart

BERLIN taz ■ Vier Tage nach dem Ende des Geiseldramas in Moskau werden die näheren Umstände der Erstürmung des Musicaltheaters durch russische Spezialeinheiten sowie der nachfolgenden Ereignisse in dem Theater immer nebulöser. Mittlerweile ist sogar unklar, ob die Geiselnehmer, wie von Moskauer Seite offiziell behauptet und als Begründung für die Aktion am Samstagmorgen angegeben, überhaupt Geiseln erschossen haben.

So zitiert der britische Nachrichtensender BBC Augenzeugen, deren Aussagen zufolge die tschetschenischen Rebellen mitnichten angefangen hätten, ihre Geiseln zu töten. Vielmehr hätten sie auf eine kleine männliche Gestalt gefeuert, die mit einer Flasche nach einigen Tschetschenen geworfen habe. Dies sei wohl von den Sicherheitskräften als Auftakt der beginnenden Exekutionen und gleichzeitig als Signal für ihren Einsatz gewertet worden.

Für Verwirrung sorgte gestern auch eine Erklärung der Moskauer Staatsanwaltschaft, wonach 45 Geiseln durch Schüsse zu Tode gekommen sein sollen. Demgegenüber blieb die Gesundheitsbehörde bei ihrer Version, der zufolge 41 Terroristen und lediglich vier Geiseln Schussverletzungen erlegen seien.

Nach wie vor unklar ist auch die Zusammensetzung des verwendeten Gases. Die US-Botschaft in Moskau erklärte gestern, laut ihren Erkenntnissen sei ein Opiat zum Einsatz gekommen. Andere Quellen wollten nicht ausschließen, dass es sich bei dem Gas um einen biologischen Kampfstoff gehandelt haben könne.

Schwere Vorwürfe an die Adresse der russischen Regierung erhob auch der Exilvizepräsident Tschetscheniens, Achmed Sakajew, auf dem gestern in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen zu Ende gegangenen Tschetschenien-Kongress. So hat Sakajew zufolge die Möglichkeit für ein unblutiges Ende des Geiseldramas durchaus bestanden – allein, Moskau habe daran keine Interesse gehabt. In einem Telefongespräch sei die Freilassung für Samstagvormittag vereinbart worden, unabhängig vom Ausgang etwaiger Verhandlungen. Auch das Ultimatum der Geiselnehmer habe es nie gegeben. „Das war eine vollständige Lüge“, sagte Sakajew.

Unterdessen kündigte Präsident Wladimir Putin an, der Kampf gegen den Terrorismus werde auch in der nationalen Sicherheitsdoktrin Russlands festgeschrieben. Er hatte am Vortag erklärt, falls Terroristen das Land mit Massenvernichtungswaffen bedrohen sollten, werde Moskau mit gleichen Mitteln zurückschlagen. bo

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