Die Angst um das eigene Leben

Seit der Geiselnahme wächst der Druck auf in Moskau lebende Tschetschenen. Schon der Gang vor die Haustür wird zum Risiko. Diskriminierungen, Erpressungen und eine menschenunwürdige Behandlung sind für viele ohnehin schon seit langem Alltag

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Bella hat seit der Geiselnahme in Moskau nur noch eine Sorge. „Meine Männer nicht zu verlieren.“ Die 40-jährige Lehrerin floh mit der siebenköpfigen Familie im ersten Tschetschenienkrieg aus Grosny. Richtig wohl gefühlt, meint sie, hätten sie sich in Moskau nie. Doch mussten sie bisher nicht um ihr Leben bangen. Die alltäglichen Erniedrigungen, die kleinen und großen Erpressungen, hier und da Bakschisch an die Behörden, „all das gehört inzwischen zu unserem Leben. Wir sind schon dankbar, wenn man uns am Leben lässt.“

Menschen dunkler Hautfarbe, Russen nennen sie Tschernije – Schwarze – hatten in Russland noch nie etwas zu lachen. Den Schlachtfesten der zaristischen Kolonialherren folgten Vertreibung und Deportation unter den Kommunisten. Und auch deren Nachfolger greifen zur Lösung innerer Probleme bevorzugt auf Bürger aus dem Kaukasus als Sündenböcke zurück. „So hasserfüllt wie jetzt“, sagt Bella, sei die Stimmung nicht einmal nach den Explosionen der Wohnhäuser im Herbst 1999 gewesen. Der Kreml schob die Attentate damals sogleich Tschetschenen in die Schuhe. Die Täter wurden zwar nie gefasst, die Vermutung reichte aber, um die große Mehrheit des Volkes für einen neuen kaukasischen Kriegszug zu begeistern.

Den Massen scheint die Lust allmählich zu vergehen, den Rachegelüsten der russischen Sicherheitsapparate tut das indes keinen Abbruch. Bellas ältester Sohn Mohammed hat mehrere Tage die Vierzimmerwohnung in einer Moskauer Vorstadt nicht verlassen. „Meiner Mutter zuliebe“, meint der 20-Jährige. Er studiert Wirtschaft und Informatik. Nach bestandener Aufnahmeprüfung zahlten die Eltern noch das „Eintrittsgeld“. Eine gängige Praxis in Russland, nur: ein Tschetschene braucht auf Ausnahme gar nicht erst zu hoffen.

Bella redet auf ihren Sohn ein, er solle auch heute zu Hause bleiben. Mohammed will aber die Vorlesung besuchen. „Wenn ich länger fehle, mache ich mich noch verdächtiger“, meint er. „Ich will nicht, dass man mich für einen Feigling hält und indirekt zum Schuldigen macht.“

Fast dasselbe hatten im Sommer im tschetschenischen Alchan-Kala auch Jugendliche so alt wie Mohammed gesagt. Die Armee hatte in Alchan-Jurt und Achan-Kala Säuberungen auf der Suche nach vermeintlichen Rebellen veranstaltet, im Blutrausch aber harmlose Leute, den Dorflehrer und Hirten, in Stücke geschnitten. Der Anführer der Geiselnehmer Mowsar Barajew stammte aus diesem Dorf und war nur drei Jahre älter.

Mohammed geht, und Bella fürchtet, er werde sich wieder in die Nesseln setzen. Erst vor kurzem hatte der Dekan der Uni der Familie nahe gelegt, den Sohn woanders unterzubringen. Er hatte sich gegen den Krieg im Kaukasus ausgeprochen. Ein anderer Kommilitone wurde bereits aus gleichem Grund relegiert. „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns. Die Weltmächte sind wieder unter sich“, schmunzelt Mohammed zum Abschied. Er hege aber keinen Hass gegen Russen, sagt er zumindest.

Am Tag nach der Geiselnahme fuhren mittags ein paar Mannschaftswagen der Polizei vor der Uni vor und nahmen alle kaukasischen Studenten mit. „Zur Überprüfung“, am Abend waren alle wieder auf freien Fuß. „Erniedrigungen, die wir in unserem Alter vielleicht ertragen“, meint Bella, die Angst raubt ihr den Schlaf, sie leidet unter Kopfschmerzen und Depressionen. „Wir können Entwürdigung vielleicht noch hinnehmen, weil wir unserer Familien schützen wollen“, sagt sie, „aber die Jungen?“

Der jüngere Sohn Musa besucht auch eine Hochschule. „Musa bringe ich mit dem Wagen hin und hole ihn ab“, erzählt Vater Aslan, der seit dem 23.Oktober nicht zur Arbeit gegangen ist. Nicht jeder Tschetschene könne sich das auf Dauer leisten, meint er. An der U-Bahn-Station in der Nähe der Hochschule hängen dutzende Skinheads herum, die nur darauf warteten, loszuschlagen. „Deshalb bringe ich ihn hin, sonst hätten wir keine Ruhe.

Bella sitzt ohnehin schon den ganzen Tag am Telefon, das abgehört wird, was mittlerweile „normal“ ist. Auch die Concierge, eine alte Kommunistin, hat ein auffallend lebendiges Interesse an der Familie entwickelt. Mindestens alle zwei Tage klingelt sie und stellt Fragen. Wie sie zu dem Anschlag stünden, ob sie den Attentäter aus früheren Zeiten kennen würden, was sie jetzt machen wollten. So direkt wie Fatima Alijewa hat es ihnen indes noch niemand gesagt. Bei Fatima tauchte der Abschnittsbevollmächtigte zwei Tage nach der Geiselnahme auf. Sie solle sich aus dem Staub machen, er dulde keine Schwarzen in seinem Revier …