Das unbekannte Wesen

Der alternde Mann war bisher ein Stiefkind der Forschung, sagt der Sexualforscher Christoph Ahlers. Das soll sich ändern: Eine Studie der Charité befragt derzeit 6.000 Männer nach ihrer Sexualität

Interview UWE RADA

taz: Herr Ahlers, 6.000 Berliner Männer zwischen 40 und 80 Jahren werden derzeit von Ihnen zum Thema Sexualität befragt. Das ist die bisher größte Studie dieser Art in Deutschland. War die Sexualität von Männern ab 40 bislang ein Buch mit sieben Siegeln?

Christoph Ahlers: Ein Buch mit sieben Siegeln nicht, aber ein Stiefkind der Forschung.

Warum?

Weil Alterungsprozesse in der Vergangenheit vornehmlich bei Frauen untersucht wurden. Das liegt daran, dass bei Frauen die pharmakologische Forschung attraktiver war, weil es da zum Beispiel um Hormonersatztherapie ging. Damit gab es einen marktwirtschaftlichen Hintergrund.

Gibt es den nun auch bei Männern?

Es hat einen Schub gegeben, seit die Pharmafirmen ein Interesse daran entwickelt haben. Bis Ende der Neunzigerjahre gab es keine Substanzen, mit denen man auf die Sexualfunktionen verlässlich Einfluss nehmen konnte. Dann kam die Zufallsentdeckung Viagra. Damit war plötzlich die Aufmerksamkeit da.

Ihr Erkenntnisinteresse ist sicher ein anderes als das der Pharmaindustrie.

Richtig. Wir wissen, dass man sexuelle Probleme nur beurteilen kann, wenn man die Lebenssituation mit berücksichtigt, in der ein Mann steht. Dies betrifft insbesondere seine Partnerschaft. Das ist noch nie berücksichtigt worden. Untersucht worden ist nur, ob ein Mann Erektion hatte oder nicht. An äußeren Einflüssen ist allenfalls noch beruflicher Stress berücksichtigt worden.

Lange andauernde, feste Partnerschaften sind heute keine Selbstverständlichkeit mehr.

Ob vorhandene oder nicht vorhandene Partnerschaften als glücksvoll oder als leidvoll empfunden werden, ist natürlich sehr unterschiedlich. Fast alle kennen das Gefühl: Ich bin jetzt Single, hab meine Ruhe, super! Was wir aber beobachten können, ist, dass mit zunehmender Länge, in der die Menschen alleine leben, die euphorischen Gefühle über das Alleinsein nachlassen. Der Wunsch nach Partnerschaft, Geborgenheit, Sicherheit wächst dann wieder.

Welche Rolle spielt dabei der Wunsch nach Sexualität?

Eine große. Fast alle anderen Bedürfnisse kann man anderweitig befriedigen, aber nichts gibt uns derart positive Gefühle wie Hautkontakt.

Gehen Männer anders mit dem Fehlen von partnerschaftlicher Sexualität um als Frauen?

Das weibliche Sexualitätskonzept ist mutmaßlich bindungsorientierter als das der Männer. Männer suchen in Zeiten ohne Partnerschaft also eher nach Mitteln und Wegen, lustvolle sexuelle Erlebnisse und Kontakte zu haben, während Frauen ihr Interesse eher auf die menschliche Begegnung richten.

Trifft das auch auf Männer über 40 zu?

Sexualität besteht aus drei grundlegenden Dimensionen. Neben der Lustdimension ist das die biologische Dimension, also die Reproduktionsfunktion, sowie die Bindungsdimension. Diese drei Dimensionen variieren in ihrer Bedeutung über die biografische Spanne hinweg. Wenn Sie Jugendliche fragen, steht eindeutig das Thema Lust im Vordergrund. Zwischen Ende zwanzig und Mitte dreißig tritt sehr stark das Thema Kinderkriegen oder nicht in den Vordergrund. Das lässt dann Ende dreißig nach, und dann tritt interessanterweise die soziale Bindung als häufiger genannte Dimension ins Zentrum, obwohl sie in allen Altersstufen gleich wichtig ist.

Das heißt, bei Männern über 40 nähert sich die männliche der weiblichen Sexualität an?

Ja, auch die genitale Fixierung der männlichen Sexualität nimmt ab. Die Männer nähern sich eher einem weiblichen Sexualitätskonzept, sind weitaus bindungsorientierter, suchen Zärtlichkeit und Hautkontakt.

Sie haben die Bedeutung der partnerschaftlichen Situation genannt. Ist demgegenüber die berufliche Situation weniger entscheidend?

Ja. Das Klischee, Stress im Beruf macht impotent, können wir aus klinischer Sicht nicht bestätigen. Was es dadurch manchmal gibt, ist ein Mangel an Lust. Was aber sexuelle Funktionsstörungen betrifft, ist die partnerschaftliche Kommunikation viel bedeutender. Es ist nur so, dass viele Männer, wenn sie nach Gründen zum Beispiel für Erektionsprobleme suchen, weniger die Kommunikation mit ihren Partnerinnen sehen als vielmehr die berufliche Situation.

In einer zweiten Phase der Studie befragen Sie auch die Partnerinnen der Männer. Ergibt sich da das gleiche Bild ein und derselben Sexualität?

Nein. Wir wissen aus Vorstudien: Wenn man ein Paar nach seiner Sexualität befragt, bekommt man sehr verschiedene Ergebnisse. Männer erleben zum Beispiel die Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs weitaus höher, als es tatsächlich der Fall ist. Frauen sind da viel realistischer. Männer definieren sich eher über Leistungsdimensionen, auch ab 40. Deshalb ist es wichtig, die Partnerinnen hinzuzuziehen, gerade was Funktionsstörungen betrifft. Was von den Männern sehr problematisch erlebt wird, ist für die Frauen mitunter gar nicht so schlimm.

Wie haben sich die Rollenbilder von Männern in den vergangenen Jahren geändert?

Noch bis in die Sechzigerjahre herrschte das Bild vom Mann als Oberhaupt, als Patriarch. Das hat sich interessanterweise über die Nachkriegszeit gehalten, obwohl in Deutschland die meisten Männer weg waren und die Frauen die Gesellschaft getragen haben. Trotzdem gerieten die Frauen zurück in eine reaktionäre Geschlechtsrolle. In den Sechzigerjahren kam dann die sexuelle Revolution: Männer durften plötzlich auch weich sein. Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre entwickelte sich als Klischee der so genannte Softie, also der überweiche, nachgiebige, immer spülende, babywickelnde Mann, der vor lauter Verständnis schon Aggressionen hervorrief. Dann kam das Gegenteil, die Bodybuilding-Welle, die neue Härte. Heute haben wir so etwas wie den integrierten Macho als Geschlechtsrollenklischee. Also ein Mann, der, wenn Sie so wollen, einen Arsch in der Hose hat, aber deswegen nicht dumpf und autoritär dominiert, sondern die Frauen als gleichwertige, ebenbürtige Sozialpartnerin akzeptiert, aber trotzdem weiß, was er will und wer er ist. Also nicht Nachgiebigkeit, sondern Integrität. Eine Integration aus Männlichkeit und Partnerschaftlichkeit.

Zur Erforschung männlichen Alterns gehört nicht nur die Sexualität. Gibt es auch männliche Wechseljahre?

Sie gibt es nicht analog zu denen der Frauen, mit dieser schon dramatischen hormonellen Veränderung. Was die Männer aber haben, ist ein kontiniuerliches Nachlassen der Produktion von Androgenen, also der Männlichkeitshormone. Damit einher können auch Gesundheitsprobleme gehen, schließlich ist Testosteron auch verantwortlich für Energie, Kraft, Muskelaufbau, Initiativität. Es gibt also ein Klimakterium virile, das zeitlich ähnlich vermutet wird wie bei der Frau, es läuft aber sehr viel gelinder ab. Psychisch scheint sich eine sehr viel größere Analogie zu ergeben als biologisch, das heißt in der Verarbeitung des Alterungsprozesses, der damit spürbar wird.