Schickt die UNO in den Kaukasus

Unwahrscheinlicher denn je sind russisch-tschetschenische Verhandlungen seit dem Moskauer Geiseldrama. Frieden kann nur die Internationalisierung des Konflikts bringen

Für am Frieden interessierte Tschetschenen kann es keinen gemeinsamen Weg mit Terroristen geben

Im vergangenen Frühjahr fanden in Weimar gleichzeitig zwei deutsch-russische Veranstaltungen statt: offizielle Regierungskonsultationen und der Zweite Petersburger Dialog, eine Begegnung zwischen deutscher und russischer Zivilgesellschaft. Zum Abschluss besuchten Kanzler Gerhard Schröder und Präsident Wladimir Putin gemeinsam Stände von NGOs aus beiden Ländern, die seit Jahren am zivilgesellschaftlichen Dialog arbeiten. Dabei beschrieben die beiden Staatsmänner einen merkwürdigen Slalom. Sie liefen nicht vor, sondern hinter den Tischen entlang und tauchten nur hin und wieder bei dem einen oder anderen Stand im Vordergrund auf. Der Grund laut Flurfunk: Man habe dem russischen Staatschef den Anblick der vielen Fotos aus Tschetschenien ersparen wollen.

Der Vorfall illustriert, wie sehr der Westen seit dem 11. September vergangenen Jahres zum Komplizen von Putins Politik in Tschetschenien geworden ist. Seit der Moskauer Geiselnahme in der vergangenen Woche ist nun klar, dass die Vogel-Strauß-Politik der russischen Regierung im Hinblick auf die rebellische Bergrepublik ihr selbst und ihrem Land geschadet hat. Dieses Nicht-wahrhaben-Wollen äußerte sich in Weimar in einer Art Orwell’schem Neusprech. In der Arbeitsgruppe „Presse“ etwa war kaum von Fällen die Rede, in denen Journalisten in Russland mit Hilfe von Gerichten oder Gewalttätern mundtot gemacht worden waren. Ausführlich wurde dagegen das angeblich hässliche Russlandbild in der deutschen Presse gescholten.

Im Plenum des Petersburger Dialogs verstieg sich ein Putin-Berater gar zu der Behauptung: Nach dem 11. September müssten alle Anwesenden wohl erkennen, dass nicht etwa der Westen in Tschetschenien die Menschenrechte verteidige; vielmehr verteidige im Kaukasus Russland den Westen gegen den internationalen Terrorismus. Niemand widersprach.

Angesichts dessen kann nicht verwundern, dass Putins Ratgeber schon kurz nach Beginn des tödlichen Musicals in Moskau wussten: Die Drahtzieher sitzen dort, wo auch die Urheber der Anschläge von New York, Washington und Bali zu suchen sind. Die russischen Spin Doctors meinten, so davon ablenken zu können, dass der Kreml selbst seit Jahren eine Eskalation des Terrors in Tschetschenien – also im eigenen Land – betreibt. Der zehnjährige Bürgerkrieg in der Teilrepublik, den die Moskauer Machthaber nicht beenden wollen, hat dort nichts übrig gelassen als Hass und Waffen. Natürlich beuten auch internationale terroristische Gruppen die verletzten Gefühle der Tschetschenen aus. Aber sie sind bestenfalls Trittbrettfahrer.

Für die ehrlich am Frieden interessierten Tschetschenen kann es keinen gemeinsamen Weg mit Terroristen geben. Die in Moskau operierende Mordtruppe konkretisierte übrigens ihre angebliche Hauptforderung nach der Einleitung eines Friedensprozesses kaum. Diese Verschwommenheit stand in merkwürdigem Gegensatz zur exakten Planung der Operation. Wir dürfen daher annehmen, dass es diesen Terroristen weniger um Friedensgespäche und mehr darum ging, politische Konflikte im russischen Stiefmutterland zu schüren. Dieses Ziel haben sie erreicht. Die Illusion, er biete der Bevölkerung Sicherheit vor derartigen Anschlägen, konnte Präsident Putin nur deshalb eine Weile lang päppeln, weil er den Deckel des Schweigens fest auf die Massenmedien drückte. Jetzt hat dieser Deckel einen Sprung.

Nach den Ereignissen der vergangenen Woche war die russische Regierung gezwungen, in den Medien des Landes wieder Stimmen zuzulassen, die einen baldmöglichsten Friedensschluss fordern. Wie immer, wenn die Wahrheit ans Licht dringt, rächen sich jetzt die Belogenen. In Russland wächst das Chaos, in der tschetschenischen Teilrepublik herrscht es bereits. Vor dem Moskauer Drama musste sich die föderale Armee dort Kontrollen diverser einheimischer und internationaler Menschenrechtsgruppen gefallen lassen. Nun hat sie den Vorwand genutzt, um ihre Strafaktionen mit noch größerer Rücksichtslosigkeit wieder aufzunehmen.

Schon längst weist der Bürgerkrieg in Tschetschenien alle Merkmale eines ethnischen Konflikts auf. Bereits 1999 brandmarkte die Moskauer Regierung das Auftreten bewaffneter tschetschenischer Banden im Tschetschenien benachbarten, ebenfalls zur Russischen Föderation gehörenden Dagestan als „Grenzverletzung“. Seither beweist die Sprachregelung der Kreml-Sprecher immer wieder, dass sie die Tschetschenen nicht mehr als mit russischen Bürgerrechten ausgestattete Personen betrachten. Noch weiter geht man bei der Moskauer Stadtverwaltung. Ein Deputierter der Liberalen Partei in der Duma forderte letzte Woche die Ausweisung aller „Schwarzen“ aus Moskau. Gemeint sind russische Staatsbürger kaukasischer Herkunft in der Hauptstadt. Bei den lokalen Behörden kann diese Forderung mit Beifall rechnen.

Ein Friedensschluss, der auf rein russisch-tschetschenischen Verhandlungen beruht, ist heute unwahrscheinlicher denn je. Zum einen kann die Regierung Putin niemals die Forderungen der Separatisten akzeptieren. Andererseits werden auch die friedlichsten tschetschenischen Bürger um keinen Preis mehr in einem Staat zu halten sein, der sie so lange und so gewaltsam von sich gestoßen hat. Die Erfahrung zeigt, dass ethnische Konflikte nur auf zwei Arten zum Stillstand gebracht werden können: erstens durch die Ausrottung einer der beiden Ethnien. Dabei hat die vergangene Woche endgültig bewiesen, dass im tschetschenischen Fall auf dem Wege zu diesem Ziel die gesamte Russische Föderation zur Kampfzone in einem blutigen Bürgerkrieg würde. Die zweite Möglichkeit ist die Umwandlung Tschetscheniens in ein internationales Protektorat der Vereinten Nationen, die das Land vermutlich für einen sehr langen Zeitraum verwalten müssten.

Seit dem 11. September ist der Westen zum Komplizen von Putins Politik in Tschetschenien geworden

Als Voraussetzung dafür müssten sich die russischen Truppen natürlich zurückziehen. Auch die tschetschenischen Freischärler müssten ihre Waffen niederlegen. Eine mit der Kontrolle ihrer Entwaffnung beauftragte Friedenstruppe müsste einen beträchtlichen militärischen Aufwand betreiben, da mit erbittertem Widerstand einzelner Terroristengruppen zu rechnen wäre. Dabei sollten die einstigen Hauptgegner der Sowjetunion im Kalten Krieg einer Blauhelmtruppe für Tschetschenien lieber fernbleiben, um empfindliche russische Seelen zu schonen.

Für Russland als Ganzes brächte eine solche Lösung einerseits neue Belastungen. Schon heute machen viele aus der Tschetschenien-Armee heimkehrende demoralisierte russische Soldaten ihre Heimat unsicher. Andererseits sollte die Moskauer Regierung heilfroh darüber sein, die Verantwortung für den tschetschenischen Zankapfel zumindest teilweise loszuwerden. Wenn man die sozialen Kosten der Heimkehr der russischen Armee mit denen eines drohenden Bürgerkrieges in ganz Russland vergleicht, ist ein Protektoratsfrieden sicher das kleinere Übel. BARBARA KERNECK