Mordserie begann wahrscheinlich früher

US-Polizei untersucht, ob mutmaßliche Heckenschützen schon zuvor Morde begingen. Staatsanwälte wittern Ruhm

WASHINGTON taz ■ Die Vorwürfe gegen die mutmaßlichen Heckenschützen von Washington werden immer zahlreicher. Landesweit untersuchen Polizeibehörden jetzt, ob ungelöste Mordfälle nicht auch etwas mit dem Bushmaster-Gewehr vom Kaliber .223 zu tun haben könnten. Das wurde in dem Auto gefunden, in dem der 41-jährige John Allen Muhammed und der 17-jährige John Lee Malvo nach einer Mordserie am 24. Oktober schlafend festgenommen worden waren.

Der Polizeichef von Baton Rouge (Louisiana) erklärte am Donnerstag, ballistischen Untersuchungen zufolge sei die Waffe auch bei der Ermordung einer Boutique-Managerin am 23. September in Baton Rouge benutzt worden. Der 45-jährigen Hong Im Ballenger war vor ihrem Laden in den Kopf geschossen worden. Der oder die Täter flohen.

Damit wird die Waffe inzwischen mit vierzehn Fällen in Verbindung gebracht – zehn davon endeten tödlich, vier mit schweren Verletzungen. Noch nicht mitgezählt sind dabei zwei Angriffe aus der Mordserie vom Oktober, bei denen die ballistischen Untersuchungen kein klares Bild ergaben. Auch beim Mordfall in Montgomery (Alabama), der die Polizei nach Hinweisen der mutmaßlichen Heckenschützen selbst überhaupt erst auf deren Spur geführt hatte, soll die Waffe neuen Tests zufolge benutzt worden sein. Dort war am 21. September eine Getränkeverkäuferin getötet und eine weitere schwer verletzt worden. Das neue Ergebnis der ballistischen Untersuchungen stellt die Polizei aber vor Rätsel. Denn Augenzeugen sprachen stets nur von einer Pistole, nicht von einem Gewehr. Die Polizei will jetzt klären, ob eine dritte Person beteiligt war. Auch wurde die Kugel, die die Verkäuferin verletzte, noch nicht gefunden. Sie könnte aus einer Pistole stammen.

Der für den Mord in Baton Rouge zuständige Staatsanwalt hat noch nicht entschieden, ob er ein Todesurteil anstrebt. Sollten nicht bald entlastende Indizien auftauchen, sehen sich Muhammed und Malvo ohnehin mit mehrfachem staatlichen Overkill konfrontiert, aus dem es kein Entrinnen geben dürfte. In Maryland, Alabama und Virginia wurden bereits Mordanklagen gegen beide erhoben, ebenso von den Bundesbehörden. Wie in Alabama und Virginia wäre auch in Louisiana die Hinrichtung Minderjähriger möglich, die in Maryland und nach Bundesrecht untersagt ist. In Washington DC, Tatort eines Mordes der Sniper-Serie im Oktober, erfolgte noch keine Anklage. Dort gibt es auch keine Todesstrafe.

Die Ermittlungen über die tatsächliche Schuld der beiden Verhafteten scheinen nicht voran gekommen zu sein. Medienberichten zufolge nahmen beide die einzig mögliche Verteidigungslinie ein: Sie schweigen zu den Vorwürfen und deuten an, der Wagen mit der Tatwaffe im Kofferraum und den Schießscharten gehöre ihnen nicht. „Ich glaube nicht, dass er irgendetwas Brauchbares gesagt hat,“ zitiert die Washington Post einen Beamten, der bei mehrstündigen Vernehmungen Muhammeds in Maryland dabei war.

Staatsanwälte in allen beteiligten Bundesstaaten kämpfen darum, den Fall verhandeln zu können. Selbst innerhalb von Maryland konkurrieren der Generalstaatsanwalt und der Staatsanwalt von Montgomery County. Dort fanden die meisten Sniper-Attacken statt und machten Polizeichef Charles Moose weltberühmt. Das Motiv des Streits ist so klar wie niederträchtig: Der Prozess wird weltweite Aufmerksamkeit erregen und scheint leicht zu gewinnen. Wer die beiden Angeklagten in die Todeszelle schickt, ist ein gemachter Mann. BERND PICKERT