Beben löscht Grundschulklasse aus

Das Erdbeben in Mittelitalien wäre vermutlich glimpflicher verlaufen, wenn bei der Renovierung einer Schule nicht Fehler gemacht worden wären. Der betroffene Ort hatte sich erfolgreich für die Beibehaltung seiner Zwergschule eingesetzt

aus Rom MICHAEL BRAUN

Erschütternde Szenen haben sich die ganze Nacht von Donnerstag auf Freitag rund um die vom Erdbeben zerstörte Schule von San Giuliano di Puglia abgespielt. Während Rettungskräfte im Scheinwerferlicht den Schutt abtrugen, verfolgten die 1.200 Einwohner schockiert das Geschehen. Weinende Eltern, die schon die Gewissheit vom Tod ihrer Kinder hatten, neben Vätern und Müttern, die noch verzweifelt auf Rettung von Sohn oder Tochter hofften. Auch der Bürgermeister grub nach Verschütteten, selbst noch, als er erfahren hatte, dass seine Tochter zu den Toten zählt.

Bis weit in die Nacht hörten die Feuerwehrmänner noch Stimmen von Überlebenden, von Kindern und einer Lehrerin. Doch nach der schon am Nachmittag erfolgten Bergung zahlreicher überlebender Kinder, die unter Schulbänken Schutz gesucht hatten, und nach der Rettung eines Kindes um drei Uhr nachts konnten nur noch Tote geborgen werden. 30 Grundschüler, drei Lehrerinnen und zwei Hausmeister überlebten, 26 Kinder dagegen – unter ihnen die komplette erste Klasse mit 9 Schülern – und eine Lehrerin starben in den Trümmern.

Ohne den Einsturz der Schule von San Giuliano wäre die Bilanz des Erdbebens im Molise vom Donnerstagmittag mit zwei Toten – zwei Frauen, die ebenfalls in San Giuliano ums Leben kamen – relativ glimpflich ausgefallen. Die Ironie des Schicksals: Vehement hatte San Giuliano in den letzten Jahren die Zwergschule verteidigt. Wie so viele andere Dörfer Süditaliens leidet San Giuliano unter Abwanderung junger Erwachsener. Umso wichtiger war die erst vor zwei Jahren renovierte Schule.

Doch das 1954 errichtete Gebäude war nicht erdbebensicher. Entsprechende verbindliche Normen führte Italien erst in den 70er-Jahren ein. Zudem ist San Giuliano staatlicherseits als „nicht erdbebengefährdet“ klassifiziert. Und die Renovierung beeinträchtigte womöglich die Stabilität des Baus. Ein Feuerwehrmann vor Ort zeigte sich jedenfalls schockiert davon, dass die neu eingezogenen Betondecken auf alten Wänden aus Hohlbausteinen ruhten, die beim Beben unter der Last nachgaben. Noch gestern nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen auf.

Das Klagen über mangelnde Erdbebensicherung in Italiens vielen bedrohten Regionen begann schon kurz nach dem Unglück. Das süditalienische Blatt Gazzetta del Mezzogiorno sprach von „Zuständen wie in der Dritten Welt“. Empört reagierten viele in San Giuliano auch auf das späte Eintreffen der Rettungskräfte. In den ersten Stunden gruben allein die Dorfeinwohner mit bloßen Händen in den Trümmern. Noch in der Nacht waren im Dorf und den Nachbarorten keine Schlafstätten für die über 3.000 obdachlos Gewordenen geschaffen, obwohl Hilfskräfte in Überfülle eingetroffen waren. Statt des Roten Kreuzes brachten Verwandte Gaskocher und Wolldecken. In den Krisenstäben wurde derweil entschieden, für den Zeltaufbau die Pfadfinder anzufordern, weil „die wissen, wie man ein Zelt errichtet“. Eine Feuerwehreinheit steckte gar wegen Benzinmangel fest.

Wohl auch deshalb besuchte Ministerpräsident Silvio Berlusconi San Giuliano am späten Donnerstag fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Von den Dorfeinwohnern jedenfalls bemerkte ihn keiner. Und Innenminister Giuseppe Pisanu sagte gestern eine Fahrt ins Katastrophengebiet ab. Er wolle die Rettungsarbeiten nicht behindern und die Einsatzstäbe nicht unnötig aufhalten, ließ er mitteilen.