Wo ist das Alte?

Im Tempodrom wurde Walt Disneys „Dschungelbuch“ als pädagogisch wertvolles Kindermusical in Szene gesetzt

Fast voll ist das Tempodrom am Freitagnachmittag, erwartungsvoll rutscht das vier bis neun Jahre alte Premierenpublikum auf den Sitzen. Vor dem auf Sperrholz gemalten Palmenwald erscheint der Erzähler im Forscherdress: „Hallo! Ist das hier Berlin? Nein, das ist der Dschungel!“

Zäh gestaltet sich der Einstieg. Weil das, was nicht dargestellt wird, erzählt werden muss, wird das Musical zum Hörspiel, unterbrochen durch viel Kindermitmachtheater. So zerfasert die Geschichte, obwohl doch der Erzählstrang der Vorlage einfach gestrickt ist: Das von Wölfen großgezogene Findelkind Mogli muss den Dschungel verlassen, weil der Tiger Shir Khan nach ihm sucht. Es soll vom Panther Bagira in die Nähe einer Menschensiedlung gebracht werden, Auf der Reise durch den Dschungel lernt Mogli andere Dschungelbewohner kennen, gerät in Gefahr, wird gerettet und kommt schließlich bei den Menschen an.

Modernisiert hat man die Geschichte allemal. Es gibt Kokosmilch bei McDschungel, und die Dschungelmüllabfuhr erreicht man unter www.die-geier.com. Die Mogli-Darstellerin kommt ihrem Ruf als Energiebündel ein wenig zu engagiert nach, da wird dann aus dem munteren Urwaldkind der überdrehte Pumuckl.

Ein Meisterwerk nannten die Autoren ihr Werk schon im Vorfeld: Der Komponist Konstantin Wecker wollte den bekannten Songs aus dem Dschungelbuch „etwas Gutes, Jetziges“ entgegensetzen, den Ohrwürmern der Vergangenheit mit einer „modernen Mischung aus Walzer, HipHop, Rap und Hardrock Paroli bieten“.

Leider vermisst man das Alte, Bewährte sehr. Wenn Bär Balu auftritt, wartet man vergebens auf „Probier’s mal mit Gemütlichkeit“, es fehlt den neuen Songs an Temperament und Eingängigkeit. Der Auftritt der Schlange Kaa soll eine moderne Rapnummer werden, Ähnlichkeiten mit Sabrina Setlurs Sprechgesangsversuchen sind dann tatsächlich vorhanden.

Liebe, Freundschaft, Toleranz sind die Grundwerte des Kindertheaters, und ohne Zivilisationskritik geht es ja seit der Siebzigerjahre-Rote-Rübe-Pädagogik in keinem Kindermusical mehr. Auch im Dschungelbuch 2002 biedert sich der Erzähler durch Erwachsenen-dissen bei den Kindern an. „Handys aus! Handys aus – Handyeltern sind ein Graus!“ müssen alle skandieren.

Der böse Tiger Shir Khan bekommt, pädagogisch wertvoll, Gelegenheit, seine Taten zu überdenken, und dann ist das Spiel zu Ende, alle ziehen zufrieden ab. Der kritische Erwachsene überlegt jedoch, ob kindliche Musicalbesucher nicht auch das Recht auf ein wenig Show und Glamour haben, und erwägt sich den Walt-Disney-Klassiker von 1967 mal wieder auf Video anzuschauen. CHRISTIANE RÖSINGER