„Ich versuche, Berlin zu schreiben“

Pieke Biermann lebt in Berlin, weil es keine größere Stadt in Deutschland gibt. Hier hat sie sich seit den 70er-Jahren in den verschiedensten Szenen bewegt, bis sie anfing, Krimis zu schreiben. Das hat ihr Bild von der Polizei auf den Kopf gestellt. Manche benutzten ihre Romane als Reiseführer

Interview WALTRAUD SCHWAB

taz: Frau Biermann, Sie schreiben Krimis, die in Berlin spielen. Fühlen Sie sich in der Stadt sicher?

Pieke Biermann: Klar. Das ganze Gerede von Hauptstadt des Verbrechens oder Metropole von Haste-nicht-gesehen, das ist doch nur lächerlich.

Wie das?

Berlin hat eine Rate von Tötungsdelikten, die ist idyllisch. Eine Stadt wie Washington oder Amsterdam träumt davon. Dazu die Aufklärungsquote, die bei über 90 Prozent liegt.

Die Kriminalitätsraten sollen nun aber gestiegen sein.

Wenn man von Januar bis August zählt und das hochrechnet, kommt immer was Falsches raus. Einmal gab es in den ersten Monaten eines Jahres gleich mehrere spektakuläre Dinger. Jemand wurde mit einem Schraubenzieher erstochen oder weiß der Kuckuck was, und alle schrien „Gefahr im Verzug!“ und „Ach Berlin!“ und „Ach nee!“. Am Ende des Jahres waren die Zahlen niedriger als sonst. Haben Sie denn Angst?

In dunklen Ecken, ja. Ist Ihnen aufgefallen, dass es in Berlin immer dusterer wird?

Unerträglich. Vor Jahren haben die damit angefangen, Berlin zu befunzeln. Das macht ’ne Stadt zum Dorf. Alte Forderung der Grünen: Energie sparen. Dass man ausgerechnet da anfängt, wo es notfalls gefährlich wird! Nicht nur für Frauen, auch für Fußgänger, Radfahrer. Außerdem gibt es ästhetische Gründe: Eine Großstadt hat hell zu sein. Damit es auch dunkle Ecken gibt.

Gehen Sie nachts über den unbeleuchteten Platz vor Ihrer Haustür?

Ich bin eine Großstadtratte. Deswegen Berlin. Was Größeres gibt es in Deutschland nicht. Wenn man gerne in so was lebt, entwickelt man automatisch, was die Amis street smartness, Straßenklugheit, nennen. Man lernt, mit Helligkeit und Dunkelheit umzugehen. Man kriegt Instinkte für gefährliche Situationen. Ich glaube, das geht allen so. Insofern gucke ich mir immer genau an, wo ich wann langgehe. Ich brauche keine Mutproben. Das habe ich mit 25 gemacht, aber nicht jetzt mit 52. Je größer die Stadt, desto mehr Durchgeknallte gibt es. Das weiß man. Da muss man intelligent drum rum.

Man kann nur hoffen, dass Intelligenz hilft.

Mehr gibt es nicht. Es gibt keine Sicherheit. Was hätte ich davon, wenn ich in Ängsten versinke.

Also ist Berlin keine kriminelle Stadt?

Natürlich ist Berlin auch ’ne kriminelle Stadt. Wo Menschen zusammenkommen, gibt es Verbrechen. Aber dennoch: In Berlin hat die Polizei das Terrain recht gut im Griff.

Auch in Bezug auf Mafia?

Da kenne ich mich nicht aus, was harte Fakten betrifft. Generell allerdings kann man sich organisierte Kriminalität nicht so vorstellen: Hier Mafia, da der Rest der Welt mit Staat und freier Industrie, Bürgern und Kultur, und zwischen beiden verläuft eine Grenze. Organisierte Kriminalität ist inzwischen überall. Nehmen wir mal die taz. Sie wissen doch gar nicht, wessen Geld da drinsteckt. Könnte es sein, dass Sie Geld waschen mit dem Gehalt, das Sie da kriegen?

Schöne Überlegung.

Ich will auch nur sagen. Es ist eine Illusion und es ist Ideologie, zu behaupten, es gibt sauber trennbar da eine Verbrechenswelt und dort eine gute Welt.

Bankenskandal?

Ja klasse, da ist doch die schönste Mischung, die man haben kann: Politik, Manager, Verwaltung, dreckiges Geld und kriminelle Energie. Alle stecken drin. Größtes „Kapital“-Verbrechen, das in Berlin passiert ist. Ich finde es übrigens gigantisch, wie es die SPD schafft, sich da rauszuhalten.

Sie glauben, die SPD hat ihre Finger drin?

Klar!

Wie lange kann sie das noch verdecken?

So lange es ihr gelingt, die Aufmerksamkeit irgendwo anders hinzulenken. Wer hat denn keine schmutzigen Finger? Ich bin nicht mal sicher, dass die Grünen keine schmutzigen Finger haben. Es gibt keine saubere Welt. Es kommt darauf an, sie mit Intelligenz zu überleben. Niemand ist gezwungen, mitzumachen. Man muss ja nicht Staatsdiener werden oder Bankmanager.

Sie sind in den 70er-Jahren nach Berlin gekommen. Wie war die Stadt damals?

Innerlich weiter, obwohl viel enger äußerlich. Westberlin war in Szenen aufgeteilt. Avangardekunst. Kleine Unternehmer. Die Schwulenszenerie, die Maler, die Kennst-du-mich-noch. Nicht dass die sich alle mochten. Im Gegenteil. Trotzdem, man war nicht so voneinander abgeschottet wie heute. Man hatte einen weiteren Horizont.

Wo haben Sie sich herumgetrieben?

Ich war eine Zeit lang frauenmäßig organisiert in der Lohn-für-Hausarbeits-Kampagne. Dann war ich bei Hydra die Frontfrau der deutschen Hurenbewegung.

Sie haben angeschafft?

Ich brauchte Geld und dachte: Klug ist es, dahin zu gehen, wo es das meiste Geld gibt. Und das war in solchen Bars in Hannover zur Messezeit.

Ist es Ihnen schwer gefallen?

In der ersten Nacht habe ich mir gesagt: Wenn ich das Gefühl habe, mir kann einer zu nahe treten, dann muss ich das nicht machen, dann gibt es auch andere Jobs. In dieser ersten Nacht ist mir aber nichts gegen irgendwas gegangen. Im Gegenteil. In dem Augenblick, wo die Machtverhältnisse umgekippt sind, in dem Augenblick, wo die Männer das Geld aus der Hand geben müssen, um was zu kriegen, hat es mir diebischen Spaß gemacht. So habe ich dann auch in Berlin die ersten Jahre mein Geld verdient.

Sie schildern das, als wäre Anschaffen leichtes Brot.

Anschaffen ist nicht gleich anschaffen. Ich war schon etwas älter, und ich war überzeugt, dass es kein Nachteil sein muss, dass ich als Frau zur Welt gekommen bin. Machtverhältnisse waren mein Thema, seit ich denken kann. Ich bin ohne Vater aufgewachsen.

Anschaffen und Machtverhältnisse umdrehen: Ich kann es mir nicht vorstellen.

Müssen Sie auch nicht. Ich kann mir dagegen nicht vorstellen, Spiegel-Redakteurin zu sein, wo man für die Schublade schreibt. Das ginge mir gegen meine Ehre. Es gibt eine Menge Berufe oder Tätigkeiten, die man sich für sich nicht vorstellen kann. Anschaffen ist eine davon für viele Frauen, aber nicht für alle.

Sie waren selbstständig?

Natürlich. Wie die meisten. Es gibt eine Menge Frauen, die steigen ein, steigen aus, steigen ein, steigen aus, immer wenn Geld gebraucht wird. Die Grauzonen zwischen Anschaffen und Nicht-anschaffen sind groß. Was sagen Sie zu einer Frau, die eine Affäre mit ihrem Doktorvater hat? Sie glaubt, es ist Liebe, und weiß doch, es ist Mittel zum Zweck. Wie würden Sie das nennen? Anschaffen doch. Aber das ist es nicht. Diese Frau wird nicht dafür verachtet. In dem Augenblick, wo ein Preisschild dran ist, ist es verachtenswürdig.

Haben Sie Verachtung gespürt?

Natürlich. Aber an mir konnte sie abperlen, weil ich ja alles mögliche andere zitieren konnte. Ich war auch Germanistin, Politologin, Aktivistin. Viele Frauen können das nicht. Sie sind viel erpressbarer. Vor allem wenn sie Kinder haben.

Verachtung ist der Schlüssel?

Ja. Und Geld.

Irgendwann haben Sie gedacht, Krimischreiben ist auch ein Weg, um an Geld zu kommen?

Oh nein! Zuerst war ich zwei Jahre Lektorin bei Rowohlt. Da habe ich festgestellt, dass man für viel weniger Geld viel mehr arbeiten muss. Seit 1982 bin ich freischaffende Schreiberin mit Gemischtwarenladen: übersetzen, Radio, Kulturjournalismus.

Wie kam es zum ersten Krimi?

Ein Wutanfall, als ich eines jener Zeitgeistmagazine, wie sie Mitte der 80er-Jahre in Mode kamen, durchblätterte. Viel Form, wenig Inhalt. Hochglanz, trendy, banal. Das soll die Zukunft im Journalismus sein? Meine etwa? Und dann kam die Idee: Ich bringe jetzt mal jemanden, der für diesen geistlosen Journalismus steht, genussvoll um. So entstand die Figur Beatrice Bitterlich. Literarisch morden ist intelligenter als wirklich morden …

Klingt nach Rechtfertigung.

Ich will ja frei sein.

Karin Lietze, die Mordkommissarin, ist eine weitere Ihrer Schöpfungen.

Ich wollte eine Polizeitruppe, ein Team. Dass eine Frau deren Chef ist, war für mich klar. In meiner Mordkommission kommen dann noch andere Figuren vor, die es angeblich nicht gibt bei der Berliner Polizei: ein Kommissar, verheiratet mit einer rabiaten Feministin. Der andere Kommissar ist offen schwul und glücklich, und niemand hat ein Problem damit. Dazu eine Lesbe, fest liiert, und eine jüdische Sekretärin. Alles sauber klischiert. Das war Absicht.

Und ist einer der Vorwürfe an Ihre Schreibe.

Klar. Nach dem Motto: Du kannst einen Schwulen doch nicht Detlef nennen.

Sie recherchieren sehr viel bei der Polizei.

Bis zu meinem ersten Krimi beschränkten sich meine Kontakte auf einen Knüppel, der bei einer Demonstration in Berlin auf meiner Schulter landete. Und einmal bin ich in Hannover unter ein Polizeipferd geraten. Mir ist nichts passiert. Aber für den Krimi musste ich ja herausfinden, wie die Polizei arbeitet, was das für Leute sind, wie die Atmosphäre ist, wie im Revier das Linoleum riecht. Da habe ich mir die Kontakte gesucht.

Die Kritik ist dennoch mitunter der Meinung, dass Sie maßlos übertreiben.

Kann gut sein, weil sich gerade in linken Kreisen das Gerücht hält, dass Berliner Polizisten rechte Rotzköpfe sind, die keinen Grips haben. Umgekehrt gilt: Verbrecher sind einfach nicht die letzten Anarchisten. Verbrechen ist nicht sexy. Und übrigens: Die von mir entwickelten „Klischeefiguren“, die gibt es bei der Berliner Polizei wirklich.

Meinen Sie, Ihre Romane vermitteln ein realistisches Bild?

Durch meine Gespräche mit Polizisten habe ich gelernt, mich in deren Schuhe zu stellen, die Welt aus deren Blick zu sehen. Es gibt immer noch jede Menge anderer Realitäten neben der eigenen. Neben der Perspektive der Opfer die der Täter und die der Aufklärer. Die muss ein Romanschriftsteller kennen. Dabei lernt man, Wahrheit zu relativieren.

Gehört dazu auch, dass Sie den Leuten aufs Maul schauen? In Ihren Romanen spielt der ins Leere laufende Berliner Humor eine gewichtige Rolle.

Das finde ich an Polizisten – nicht nur denen aus Berlin – so spannend: Die sind unheimlich witzig. Huren übrigens auch. Mit so nem Überlebenswitz. Das, was übergroß wird, wird auf Lebensgröße zurechtgelacht.

Was ist das Markenzeichen Pieke Biermann?

Ich versuche, die Stadt Berlin zu schreiben, nicht zu beschreiben. Mein literarisches Projekt: das, was die Stadt ausmacht, wie sie tickt, wie sie riecht, wie sie klingt, in Worte zu übersetzen. Es gibt Leute, die benutzten meine Krimis als Reiseführer.

Krimi und Reiseführer in einem. Wie kriegen Sie das hin?

Das Erste ist immer der Ort. Der letzte Roman spielt am Flughafen Tempelhof. Was für ’ne Art von Verbrechen ist da plausibel, passt da hin? Das hängt davon ab, was für Personal da ist, was für eine Soziologie der Ort hat.

Das bedeutet tagelanges Herumlungern.

Monate. Ich suche mir dann Leute, die mir Zugang zum Ort verschaffen. Auf dem Flughafen habe ich viel über die Feuerwehr kennen gelernt. Hab mir von ihnen die Stockwerke unter der Erde zeigen lassen. Ich war im Tower, in der Radarzentrale, bekam einen Freiflug, durfte im Cockpit sitzen. Die Leute geben ihre Faszination gerne weiter. Also zuerst der Ort und dann die Soziologie des Ortes. Mit der hat dann das Kapitalverbrechen zu tun.

Ihr neuestes Projekt?

Eigentlich sollte es ein Karin-Lietze-Krimi am Ostbahnhof werden. Beim Erkunden des Bahnhofs bin ich auf eine zivile Schutzpolizeitruppe gestoßen, die mich gefesselt hat. Das war die OGJ, die Operative Gruppe gegen Jugendgruppengewalt. Gehört zu Direktion 6. Friedrichshain, Treptow bis runter nach Köpenick. Eine Gegend, wo sie von Rechtsradikalität bis Hooliganism alles haben. Dazu organisierte Kriminalität, Türsteher-, Diskothekenszene. Da durfte ich mal mit. Fahr also mit den acht Jungs in Zivil, die so aussehen, dass du, kämen sie dir nachts im Park entgegen, bestimmt deinen Schritt beschleunigen würdest. Glatzköpfig. Finster guckend. Aber es stellte sich raus, dass manche von denen mehr Bücher lesen als der halbe Kulturbetrieb.

Als Krimischreiberin sind Sie Fan der Polizei geworden …

… Fan? Ich gucke gern genau hin. In jener Nacht, in der ich also dabei war, gab es eine Meldung, dass ein Bengel in Friedrichshain ’ne Kneipe zerlegt hat oder so – jedenfalls was, wo das große grüne Besteck kommen musste. Der Bengel ist im besetzten Haus in der Pfarrstraße verschwunden. Also picture it: Sehr schwüler Hochsommerabend, draußen vor dem Haus sitzt alles, ist stockbesoffen und hat Hunde dabei, wie es sich für ein besetztes Haus gehört. Da geht ein Berliner Straßenkob mal lieber deeskalierend vor. Das hab ich dann haarklein vorgeführt gekriegt. Ich dachte, das ist ja ein richtiges Ballett. Also, meine Ziviljungs haben mit Witz und einer tänzelnden Eleganz die Leute ruhig gequatscht, so dass da keiner ausrastet. Den Typen, um den es ging, holten sie ohne Keilerei raus. Ich dachte: Interessante Truppe, wieso weiß ich von der gar nichts? Wieso hört man über die nichts? Wieso schreibt eigentlich keiner einen Roman über die? Das war der Beginn einer wunderbaren Recherche. An dem Roman sitze ich nun.

Der Roman ist an der Truppe orientiert?

Genau, der ist ohne Mord- und Totschlag, der hat eine völlig andere Dramaturgie. Ein normaler Krimi hat einen Fall, der dann in der Regel aufgelöst wird. Bei dieser Truppe gibt’s nicht Anfang und Ende, sondern einen ständigen Verlauf. Das hört nie auf.

Und der Spannungsbogen?

Das ist ’ne Herausforderung für einen Realitätsjunkie wie mich.