Ein Abschied und viele offene Fragen

Die Erdbebenopfer im italienischen San Giuliano erhalten ein Staatsbegräbnis. Doch zugleich stellt sich die Frage, ob staatliche Schlamperei mit zu der Katastrophe beigetragen hat. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Mängel auch bei der Prävention

aus Rom MICHAEL BRAUN

Mit einem Staatsbegräbnis hat Italien gestern Abschied von den 29 Opfern genommen, die das Erdbeben vom Donnerstag in dem molisanischen Dorf San Giuliano di Puglia gefordert hatte. Neben Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi nahmen der Präsident der Abgeordnetenkammer, der Innenminister und die Unterrichtsministerin an der Trauerfeier teil. So stark jetzt aber die offizielle Anteilnahme ist, so sehr wird in Italiens Öffentlichkeit zugleich die Frage aufgeworfen, ob hinter der Tragödie staatliches Versagen steht.

Denn mit 26 Kindern und einer Lehrerin kamen fast alle Opfer beim Einsturz des Schulgebäudes in San Giuliano ums Leben – dem neben einem alten, baufälligen Haus einzigen Gebäude im Ort, das komplett in sich zusammenbrach. Der zuständige Staatsanwalt erklärte, die Umstände des Einsturzes seien „anormal“, und nahm Ermittlungen gegen unbekannt wegen fahrlässiger Herbeiführung eines Unglücks auf. Im Mittelpunkt der Untersuchung werden die Renovierungsarbeiten der letzten Jahre stehen; der Ausbau des ersten Stocks mit der Einrichtung zweier neuer Klassen soll die Statik des Gebäudes weiter beeinträchtigt haben. Vor allem sollen in Zement gegossene Decken, die auf Wänden aus Hohlbausteinen ruhten, bewirkt haben, dass die Schule beim Beben „wie ein Keks zerbröselte“.

Jenseits direkter strafrechtlicher Verantwortlichkeiten ist das Unglück in Italien zugleich wieder einmal Anlass, generell eine Bilanz der Katastrophenprävention zu ziehen. San Giuliano – das nach einem weiteren schweren Nachbeben am Freitagnachmittag mittlerweile evakuiert ist – war durch die Behörden als nicht erdbebengefährdet klassifiziert. Die Wissenschaftler wussten es allerdings besser: Sie hatten schon 1998 eine neue Klassifizierung vorgelegt, die fast das ganze Molise inklusive der jetzt betroffenen Gebiete als schwer gefährdet einstufte.

Lokalpolitiker legen auf die unpopuläre Einstufung ohnehin keinen Wert: Sie kompliziert für öffentliche wie für private Bauvorhaben die Prozeduren und erhöht die Kosten. Aber auch die Erklärung San Giulianos zur erdbebengefährdeten Gemeinde hätte die Katastrophe nicht abgewendet, wie jetzt Enzo Boschi, Direktor des Nationalen Instituts für Seismologie, unterstrich: Im Unterschied zu Neubau- muss bei Umbauarbeiten nicht der Nachweis der Erdbebensicherheit erbracht werden.

Als vollkommen löchrig erweisen sich auch landesweit die Sicherheitskontrollen in den staatlichen Schulgebäuden. Für nicht einmal die Hälfte der Bauten liegt ein Zertifikat über die Statik vor, obwohl ein Gesetz von 1994 die Prüfung zwingend vorschreibt, und sogar 73 Prozent der Schulen fehlt das Zertifikat zur Brandsicherheit.