Winzige Fehler im System

Lebst du noch oder filmst du schon? Heute startet im Haus der Kulturen der Welt das Kurzfilmfestival „interfilm“

Kennen Sie den: Kommt ein Mann die Straße entlang und entdeckt im Schaufenster eines Optikers ein verlockendes Angebot. Kurz entschlossen ersteht er die einzigartige Brille, die ihm anstatt der hektischen Großstadtrealität flugs einen idyllischen Park vor Augen führt. Kaum wagt er den ersten Schritt in seiner neuen Umgebung, holt ihn die Wirklichkeit ein und er wird von einem vorbeirasenden Auto hopsgenommen. Was bleibt, ist der Kondensstreifen seiner verdutzten Seele und ein verblüffender kleiner Filmspaß für den Zuschauer.

„Natural Glasses“ von Jens Lien dauert nicht länger als eine Minute und gehört damit zu den Quickies unter den insgesamt etwa 400 Beiträgen aus über 70 Länden, die ab heute auf dem 18. Internationalen Kurzfilmfestival „interfilm“ gezeigt werden. Etwa die Hälfte davon startet im traditionellen Wettbewerbsprogramm, inklusive Kinderfilmwettbewerb und mit extra Auszeichnungen für Berlin-Brandenburger Lokalmatadore sowie für Filme „Gegen Gewalt und Intoleranz“.

Gerade letztere Kategorie, in der es thematisch ausschließlich um die Auseinandersetzung mit kulturellen und politischen Konflikten gehen soll, scheint dabei immer größeres Interesse bei den Filmemachern zu wecken. So sei es laut Festivalchef Heinz Herrmanns in diesem Jahr wieder zunehmend schwerer gefallen, sich auf zehn Wettbewerbsfilme zu einigen. Geschafft hat es etwa der Nach-Bürgerkriegs-Film „Snipers Alley“ von Rudolf Schweiger, in dem sich zwei junge Blauhelmsoldaten plötzlich in einer lebensgefährlichen Auseinandersetzung mit einem Heckenschützen konfrontiert sehen. Verwunderlich ist es ja schon, dass sich ausgerechnet für diese Sparte keine preisstiftenden Sponsoren finden lassen wollten.

Bei „interfilm“, das 1982 als verschrobenes Super-8-Festival startete, findet jedes auch noch so kuriose Machwerk seine Nische im Programm. In erster Linie wollen die Interfilmer zeigen, dass sich in weniger als zehn Minuten oftmals genauso viel und dabei nicht selten anspruchsvoller erzählen lässt als in neunzig.

Exakt fünf wortlose Minuten genügen dem Schweden Per Carleson in „Tempo“, um eine ebenso nachdenkliche wie groteske Short-Story um eine junge Familie aufzubauen, die ihren Alltag komplett nach dem modernen „Lebst du noch oder wohnst du schon“-Prinzip umgestaltet hat, um das Maximum an Zeit zu sparen, die man sonst nur unnütz mit den Liebsten zu verbringen hätte. Das Zusammenspiel klappt perfekt, bis ein falscher Griff die morgendliche Prozedur um einige Sekunden verzögert und Papa daraufhin den Fahrstuhl verpasst. Ein winziger Fehler im System, bei dem der große Tod den kleinen einfach überholt hat.

Für einen Großteil der Beiträge gilt: Humor ist, wenn man trotzdem Kurzfilme macht. Auch ohne ein großes Budget oder etwa staatliche Fördergelder im Rücken und auch ohne die langfristige Aussicht auf einen triumphalen Siegeszug der filmischen Kurzform auf der großen Kinoleinwand. Und Liebe ist, wenn man wie Herrmanns seit nunmehr 20 Jahren nahezu ehrenamtlich ein No-Budget-Festival auf die Beine stellt, um jener stets zu Unrecht vernachlässigten Spezies ein echtes Forum zu bieten.

PAMELA JAHN

Eröffnung heute, 20 Uhr, Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, Tiergarten