Aus Amt und Parlament gejagt

Die verflixte Zehnprozenthürde: 45 Prozent der Stimmen gingen an Parteien, die nicht im Parlament vertreten sind. Darunter: drei bisherige Regierungsparteien mit drei bisherigen Ministerpräsidenten

ISTANBUL taz ■ Es war ein Auftritt, den man seinem schlimmsten Gegner nicht wünschen möchte. Mit zitternder Stimme und fahrigem Blick gab Bülent Ecevit sein letztes Interview als Ministerpräsident der Türkei. Der Beschluss zu vorgezogenen Neuwahlen sei „politischer Selbstmord“ gewesen, stellte der 77-Jährige fest und machte damit klar, dass er noch immer nicht ganz begriffen hatte, was ihm eigentlich zugestoßen ist. Vierzig Jahre lang war Ecevit einer der führenden Politiker der Türkei und wurde nun mit demütigenden 1,2 Prozent der abgegebenen Stimmen aus dem Amt gejagt. Aber auch für die anderen Parteiführer, die in den letzten zehn Jahren die Bildschirme und Schlagzeilen des Landes bestimmt haben, bedeutete die Wahlnacht das Aus.

Mesut Yilmaz, ebenfalls mehrfacher Ministerpräsident und zuletzt als Vizeministerpräsident für die Beziehungen zur EU zuständig, gab nach der 5-Prozent-Niederlage seiner Anap den Parteivorsitz auf. Das Gleiche gilt für Tansu Ciller. Die Chefin der DYP, der „Partei des rechten Weges“, ist mit Yilmaz dafür verantwortlich, dass das rechte bürgerliche Lager von rund 45 Prozent Anfang der 90er-Jahre auf zuletzt gemeinsame 13 Prozent sank. Ihre persönliche Konkurrenz und die ständigen Korruptionsaffären beider schafften erst den Raum, den die AK Parti nun besetzte. Ebenfalls gescheitert ist Exaußenminister Ismail Cem, der im Frühsommer eine explizite Pro-EU-Partei gründete. Auch die Regierungsphase der ultranationalistischen Postfaschisten von der MHP hat sich mit der Wahl als eine Episode herausgestellt. Hochgespült durch die Hysterie nach der Verhaftung des PKK-Führers Öcalan im Frühjahr 1999, wurde die MHP jetzt wieder auf ihr Normalmaß von 8 Prozent gestutzt.

Auch die prokurdische Dehap scheiterte an der Zehnprozenthürde. Wie schon bei den Wahlen 1999, erreichte die Partei im kurdisch besiedelten Südosten zwar zum Teil Ergebnisse über 50 Prozent, doch im Westen blieb sie wiederum weit unter den Erwartungen. Das liegt daran, dass die eigentliche kurdische Partei Hadep sich zwar dieses Mal mit zwei kleinen linken Splitterparteien zur Dehap zusammengetan hat, es aber trotzdem nicht schaffte, als gesamttürkische, ethnisch nicht gebundene Partei aufzutreten. Selbst viele Kurden in den westlichen Zentren wie Istanbul oder Izmir wählen nicht mehr die jeweilige kurdische Partei, sondern meistens die sozialdemokratische Alternative.

Auch in Zukunft dürfte es für eine ethnisch orientierte kurdische Partei deshalb schwer bleiben, es sei denn, die Zehnprozenthürde wird auf 5 Prozent gesenkt. Nachdem bei dieser Wahl rund 45 Prozent aller abgegebenen Stimmen an Parteien gingen, die außerhalb des Parlaments blieben, ist zwar jetzt die Forderung nach einer Senkung populär. Doch erfahrungsgemäß sind die Wahlsieger dazu wenig geneigt. Schließlich beugt ja eine hohe Hürde dem Chaos vor, und angeblich sehnen sich ja alle nach Stabilität. JÜRGEN GOTTSCHLICH