american pie
: Quarterback Drew Bledsoe lässt Buffalo hoffen

Das bärtige Aschenputtel

Fast jede Saison in der National Football League (NFL) hat ihr kleines Märchen. Der arme Supermarktangestellte, der nach Jahren der Obskurität sein Team zum Super-Bowl-Gewinn führt – wie Kurt Warner in St. Louis. Der verdiente Haudegen, der im Spätherbst seiner glanzvollen, bis dahin aber titelfreien Karriere doch noch die Krönung erfährt – wie John Elway in Denver. Oder der unbekannte Ersatz-Quarterback, der durch eine Verletzung des Stars plötzlich ins Rampenlicht gerät und mit einer beispiellosen Siegesserie seine Underdog-Mannschaft zur Meisterschaft führt – wie Tom Brady letzte Saison bei den New England Patriots.

Natürlich hat jedes Märchen auch sein Aschenputtel, im Falle der Patriots war dies Drew Bledsoe. Der 30-Jährige galt und gilt als einer der besten Quarterbacks in der neueren NFL-Geschichte, hatte das Team aus Boston neun Jahre lang unumschränkt beherrscht und musste, obwohl bald genesen, plötzlich tatenlos zusehen, wie sein Vertreter jene Triumphe einheimste, die ihm stets versagt waren. Eine Majestätsbeleidigung, die nicht ohne Folgen bleiben konnte. Bledsoe wollte nichts wie weg und fand schließlich Asyl bei den Buffalo Bills – eine Mannschaft, die in der selben Division spielt wie New England, weshalb der Transfer einiges Erstaunen auslöste.

Das Staunen verkehrte sich bei manchem Patriots-Fan bald in offenen Ärger. Während Tom Brady zwar nicht schlecht, aber auch nicht überragend spielte, blühte Drew Bledsoe in Buffalo förmlich auf. Gleich im zweiten Match, einem Sieg in Minnesota, erwarf er mit seinen Pässen 463 Yards, so viel, wie noch nie jemand in der Geschichte der Bills, Platz 25 in der ewigen NFL-Bestenliste. Nach der Hälfte der Spiele hatte er schon 2.500 Yards gesammelt, Dan Marinos Rekord für eine Saison (5.084) wackelt.

Zudem hatte sich Bledsoe von Anfang an als absoluter Führungsspieler im relativ jungen Team präsentiert. „Er hat gesehen, dass da eine Lücke war und sie sofort ausgefüllt“, lobt Offensiv-Koordinator Kevin Gilbride. Wer im Training schlampt, wird von ihm zusammengestaucht, die Receiver überredete er zu Extra-Videosessions, und er brachte sogar die gesamte Offensivreihe dazu, sich als Zeichen des Zusammenhalts Bärte stehen zu lassen. Ein Trick, der glatt aus der Hexenküche eines Christoph Daum oder Klaus Toppmöller stammen könnte.

Der Erfolg: Die Buffalo Bills, die letzte Saison bloß drei Spiele gewannen, haben schon fünf Siege auf dem Konto, sind – zum Leidwesen der Patriots– ein ernst zu nehmender Anwärter auf den Divisionstitel und eine Mannschaft, auf welche die Fans wieder stolz sein können. Das war nicht mehr so seit der großen Zeit Anfang der Neunziger, als die Bills viermal in Folge die Super Bowl erreichten – und jedesmal verloren.

„Er ist wie neu geboren“, sagt Receiver Charles Johnson über Drew Bledsoe, der sich kein Team vorstellen kann, „dass besser zu mir passen würde“. Fehlte eigentlich nur noch ein kleines Tüpfelchen: ein Sieg über sein altes Team. Doch ausgerechnet in der „Bledsoe Bowl“, wie das Aufeinandertreffen am letzten Sonntag in Buffalo genannt wurde, spielte Tom Brady nahezu perfekt und die Patriots, zuvor viermal in Folge geschlagen, siegten mit 38:7. Bledsoe nahm es äußerlich gelassen: „Nach dem Spiel schüttelst du dir die Hand und bereitest dich auf den nächsten Kampf vor.“ Der ist bereits terminiert: Am 8. Dezember spielen die Bills in New England – und dann könnte es in einer dieses Jahr sehr ausgeglichenen Liga schon ums Ganze gehen: den Einzug in die Play-offs. MATTI LIESKE