Reservistenfrust zu Spielerlust

Werder gewinnt 3 : 0 gegen Sankt Pauli, auch dank der freudig erregten Hinterbänkler. Der gemeinsame Feind heißt HSV, und so tobt die Stimmung trotz absehbarem Ausgang

Die englischen Wochen sind angebrochen. Das heißt nicht nur Fußball im Viertage-Takt, sondern auch kalte Herbstabende unter Flutlicht, und Pokalfieber mit Gänsehautatmosphäre. Und nirgendwo ist Fußball hierzulande englischer als auf St.Pauli. Nicht nur wegen der Werbetafel an einer Flutlichtsäule, die das Kiezbier Astra als „Mast bei jedem Fußballspiel“ ausweist.

Schon beim Anmarsch rührt das „You‘ll never walk alone“ aus der singing area die sentimentale Fußballerseele zutiefst, auch wenn man sich im Gewühl gerade nach zwei Zentimetern Einsamkeit sehnt. Dass die Pressekarten bei der Wirtin hinterlegt sind, erweist sich zwar als Fehlinformation eines gutgelaunten Ordners, ist hier aber durchaus glaubhaft, zumal der Weg auf die Pressetribüne durchs Clubheim führt und Wirtin Brigitte fast so mächtig ist wie der Präsident. Drinnen im engen, dichtbesetzten Stadion wird ein über die Stadionanlage zugespieltes Stück der Marke Toten Hosen mit tosendem Gegengesang beantwortet. Auf dieser Party ist Pseudopunk verpönt.Fehlte bloß noch der Pokalkrimi.

Werder zeigte sich allerdings als Spielverderber und machte humorlos aus drei Chancen ein 3:0. Mit einer wohldosierten Mischung aus Einsatz und Schonung gelang es dem Schaaf-Team, nur drei Tage nach dem hochtourig eingefahrenen Bayern-Sieg, zwei Gänge runterzuschalten, ohne ins Straucheln zu geraten. Zwei frühe Tore jeweils zu Beginn jeder Halbzeit durch de Magnin und Ailton ließen Thomas Schaafs Ziel „die Sache ruhig und konzentriert hinter uns zu bringen“ nie in Gefahr geraten. Einzig dem nur verbal aggressiven Ailton merkte man an, dass in einem Pokalspiel keine Punkte für die Torjägerkrone in der Bundesliga zu holen sind.

Da Schaaf den Leistungsträgern Micoud und Charisteas eine Erholungspause gönnte, erhielten einige frische Spieler die Gelegenheit, ihren Reservistenfrust in Spiellaune umzusetzen. Dabei wurden die Hamburger Jungs und Ex-Pauli-Kicker Klasnic und Wehlage von ihren alten Fans mit englischer Fairness empfangen – kein Pfiff im weiten Rund. In

fast jedem anderen Stadion wäre dieser müde Pokalkick zu einem Langweiler geworden. Aber die nimmermüden Roarer, Shouter und Singer hielten den Pegel auf Dauerspannung. Den rund dreitausend angereisten Grün-Weißen stand ihre wichtigste Waffe im Sängerstreit diesmal nicht zur Verfügung: Ihr Lieblingsschmähgesang wurde ihnen an diesem Ort selbst entgegengeschleudert: „Ihr seid scheiße wie der HSV“. Es geht doch nichts über gemeinsame Feinde, und so konnten nach dem 3:0 durch Daun alle entspannt in das „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ einstimmen. Ralf Lorenzen