„Dann haben wir ernste Probleme“


aus Berlin LUKAS WALLRAFF

Zugeben will es keiner, aber bei den Politikern der rot-grünen Koalition geht die Angst um. Kein Wunder: Das Letzte, was SPD und Grüne vor den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen im Februar gebrauchen können, ist eine Niederlage vor dem Bundesverfassungsgericht. Wenn die höchsten Richter das Zuwanderungsgesetz stoppen, wie es zwei Zeitungen gestern bereits vorab wissen wollten, wäre nicht nur eine der wichtigsten Reformen gescheitert, mit denen sich diese Regierung schmückt. Ein Nein aus Karlsruhe wäre eine höchstnotpeinliche Blamage für alle, die an der umstrittenen Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz im März beteiligt waren.

Der damalige Bundesratspräsident, Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD), stünde als Gesetzesbrecher da, weil er die Abstimmung als gültig und das umstrittene Votum Brandenburgs als Ja gewertet hat. Aber auch Bundeskanzler Gerhard Schröder und alle anderen, die Wowereits Vorgehen selbstsicher als „verfassungsgemäß“ verteidigten, wären düpiert. Nur Bundespräsident Johannes Rau hat sich einigermaßen abgesichert. Bei seiner Unterschrift unter das Gesetz machte er aus seinen Bauchschmerzen keinen Hehl und ermunterte die Union sogar, nach Karlsruhe zu gehen. Und die fühlt sich schon als Sieger.

Sofort nach den Berichten über die angebliche 5:3-Mehrheit gegen das Gesetz unter den Richtern sprach CSU-Landesgruppenchef Michael Glos von „einem Sieg des Rechts“. Dass die Nachricht umgehend dementiert wurde, dass die Richter offiziell noch nichts verlauten lassen, ficht Glos nicht an. Er weiß: Die Union hat wenig zu verlieren. Wenn Karlsruhe für Rot-Grün entscheidet, geht alles den normalen Lauf der Dinge und das Gesetz tritt am 1. Januar in Kraft. Die Union hätte aus ihrer Sicht ihr Möglichstes getan, um es zu verhindern, und könnte im Wahlkampf wie vor vier Jahren in Hessen wieder gegen die „Ausweitung der Zuwanderung“ wettern. Grund für Nervosität gibt es deshalb nur im Regierungslager. Über mögliche Konsequenzen will man dort nicht reden. Die rot-grüne Sprachregelung lautet: Alles nur „Spekulation“ und „Kaffeesatzleserei“.

Dass in Karlsruhe eine Zeitbombe tickt, wissen die rot-grünen Politiker freilich schon lange. „Wir hatten direkt nach der mündlichen Verhandlung im Oktober Signale bekommen, dass das schwierig werden könnte“, sagte der Zuwanderungsexperte der SPD-Bundestagsfraktion, Michael Bürsch, der taz. Aus den skeptischen Fragen der Richter habe man bereits „Schlussfolgerungen ziehen können“, so Bürsch, der aber trotzdem tapfer bei der Regierungslinie bleibt.

Was, wenn nicht?

Wie alle anderen rot-grünen Politiker hält Bürsch die Abstimmung für verfassungskonform. „Bis zum Beweis des Gegenteils gehen wir davon aus, dass das Gesetz in Kraft tritt.“ Was aber, wenn nicht? Der parlamentarische Geschäftsführer der Grünen sieht die Sache nüchtern. „Dann würde weiter unser altes Ausländerrecht gelten, das weniger gut ist“, so Volker Beck zur taz.

Eine Neuauflage des Zuwanderungsgesetzes hätte bei den derzeitigen Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat sicher keine Mehrheit. Seit der Abstimmung im März sind Rot-Grün auch noch die Stimmen aus Sachsen-Anhalt flöten gegangen. Nicht einmal ein eindeutiges Ja aus Brandenburg würde diesmal helfen. Um das Gesetz in seiner jetzigen Form durchzubringen, müsste ein weiteres Wunder geschehen: ein Doppelsieg in Hessen und Niedersachsen, auf den selbst die größten Optimisten bei Rot-Grün kaum zu hoffen wagen.

Beck versuchte gestern, die Lage mit Humor zu nehmen. „Wenn der Himmel einstürzt, sind alle Spatzen tot.“ Fraktionsvize Christian Ströbele wurde da deutlicher. Sollten die Gerüchte über das Nein aus Karslruhe stimmen, so Ströbele, „dann haben wir ernste Probleme“.

Die Grünen wissen: Ein Scheitern des Gesetzes würde einen neuen Verhandlungsmarathon mit der SPD bedeuten, mit Innenminister Otto Schily und der Union im Bundesrat. Der SPD-Politiker Bürsch versicherte zwar gestern, „eine Stückelung des Gesetzes halte ich für falsch“. Aber egal in welcher Form: Ob bei den Verhandlungen für die Grünen mehr herauskommt als beim ersten Mal, ist mehr als fraglich. Das ehrgeizige Projekt eines modernen Einwanderungsrechts würde in weite Ferne rücken.

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