Der Albtraum jeder Kita

Zwei ErzieherInnen stehen vor Gericht, weil ein behindertes Kind ihrer Gruppe weglief und vor die U-Bahn fiel. Staatsanwalt fordert Geldstrafe, die Verteidigung Freispruch

Viele Berufsgruppen klagen, sie stünden mit einem Bein im Gefängnis. Die Erzieherin Anke W. und ihr Kollege Malte H. müssen sich seit gestern vor dem Amtsgericht dem Vorwurf stellen, sie hätten ihre Aufsichtspflicht verletzt, sodass ein sechsjähriges behindertes Mädchen ausbüxen konnte. Die kleine Josefine fiel vor die U-Bahn und wurde schwer verletzt.

Wie die Verhandlung ergab, hatten die beiden ErzieherInnen im Mai 2001 mit ihrer siebenköpfigen Kindergruppe auf einem Spielplatz bei der Eimsbütteler Christuskirche zu Mittag gegessen. W. berichtete, sie habe mit einem Kind auf einer Picknick-Decke gesessen. Die geistig und körperlich behinderte Josefine habe einen Meter weiter zwischen Flaschen und Bechern gesessen, die übrigen Kinder hätten auf dem Platz verteilt gespielt. Erzieher H. war zu der 30 Meter entfernten Kita gegangen, um einen Teil des Geschirrs zurückzubringen.

Als er wiederkam, so beide ErzieherInnen, hätten sie bemerkt, dass Josefine fehlte. H. und W. durchsuchten das Gebüsch im Umkreis des Spielplatzes, bis sie in der Nähe des U-Bahnhofs Christuskirche ein Martinshorn hörten, und sie das schwer verletzte Kind im Bahnhof identifizieren mussten.

Staatsanwalt Brezinsky wirft H. fahrlässige Körperverletzung durch Unterlassen vor. Denn Josefine war drei Wochen zuvor schon einmal vom gleichen Spielplatz ausgebüxt. H. wusste das, W. aber nicht, da sie damals in Urlaub gewesen war. Nach Ansicht des Staatsanwaltes hätte H. nicht weggehen dürfen oder hätte seine Kollegin zuvor über den Vorfall informieren müssen. Brezinsky plädierte deshalb auf Freispruch für W. und eine Verurteilung H.s zu einer Geldstrafe von drei Monatsgehältern.

H.s Anwältin Gabriele Heinicke, forderte hingegen auch für ihren Mandanten einen Freispruch. H. sei zu beschäftigt gewesen, um seine Kollegin auf Josefines Weglaufen hinzuweisen. Das vom Staatsanwalt geforderte Urteil sende ein „fatales Signal“ an alle integrativen Kindergärten. Um ein Ausbüxen Josefines zu verhindern, hätten die ErzieherInnen das Kind keinen Augenblick aus den Augen lassen dürfen. Heinicke: „Sie hätten sie anleinen oder einsperren müssen.“

Das Urteil wird kommenden Dienstag verkündet.

Gernot Knödler