Der Schmerz der Erinnerung

Metropolis-Kino zeigt zum Jahrestag der Reichspogromnacht Film über ein SS-Massaker bei den Todesmärschen der KZ-Häftlinge. Auch über 50 Jahre später versuchen die deutschen Augenzeugen zuallererst, das Erinnern zu vermeiden

von ANDREAS BLECHSCHMIDT

Der heute 77-jährige Franzose Lucien Colonel feiert zwei Geburtstage im Jahr. Den 21. Juli als den Tag seiner Geburt, den 13. April als den Tag seines Überlebens. Mit tausenden anderer KZ-Häftlinge des Lagers Dora-Mittelbau, einem Außenlager des KZ Buchenwald, wurde Colonel im April 1945 auf einen Todesmarsch nach der Auflösung des Lagers gezwungen. Er gehört zu den acht Überlebenden eines Massakers nahe dem sachsen-anhaltinischen Gardelegen, bei dem am 13. April 1945 1016 Häftlinge ermordet wurden. Die die Häftlinge begleitenden SS-Wachmannschaften trieben ihre Opfer in eine Scheune, um sie dann bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Nur einen Tag später erreichten US-Truppen den Ort des Verbrechens. Claus-Ivar Bolbrinker und Diana Gring haben dem Ereignis den Film „Das Massaker von Gardelegen“ gewidmet, den das Metropolis-Kino in Zusammenarbeit mit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme zum heutigen Jahrestag des Nazi-Pogroms vom 9. November 1938 zeigt.

Die FilmemacherInnen haben vier überlebende Franzosen, die ins KZ verschleppt wurden, nach ihren Erinnerungen befragt. Dabei ist weniger ein Film entstanden, der eine umfassende historische Rekonstruktion der Ereignisse versucht oder gar Erklärungen für das Geschehen geben möchte. Im Zentrum steht vielmehr die schmerzliche Erinnerungsarbeit derer, die entkamen. Zugleich offenbart der Film eine Kluft zwischen dem Erinnern der Überlebenden des KZ und dem der im Film befragten deutschen Zeitzeugen.

Aimé Bonifas schrieb sich seine Erlebnisse buchstäblich von der Seele, während Lucien Colonel nach dem Krieg als Fotograf Fotoprojekte über die Nachgeschichte der deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager initiierte. Bei den Zeugnissen der vier im Film zu Wort kommenden Überlebenden ist die Fassungslosigkeit über den Tod so vieler Kameraden auch über 50 Jahre danach ungebrochen. Sie suchen vergeblich nach einer Antwort auf die Frage, wieso bis zuletzt Hunderttausende ziellos durch die SS-Wachmannschaften über Hunderte von Kilometern über die Straßen getrieben wurden. Über eine Viertelmillion Menschen kamen seit Mitte 1944 bei den Todesmärschen ums Leben, deren letzter noch am 7. Mai 1945 in Marsch gesetzt wurde.

Im Film kommen auch deutsche Zeitzeugen aus Gardelegen zu Wort. Ihre Berichte geraten teilweise zu einem Dokument der Erinnerungsvermeidung. Eine Nachbarin des mutmaßlichen Haupttäters weiß zunächst nur Freundliches über den, der den Befehl für das Massaker gab, zu berichten. Vom Todestreck der entkräfteten Häftlinge erinnert sie „Leute mit für uns ganz fremden Anzügen“. Ein Landwirt, der die Ankunft von Viehwaggongs mit den später Ermordeten beobachtete, mag sich vage erinnern, „SS und alles solche Sachen“ seien da gewesen. Von den Häftlingen erzählt er, „beim Ausladen sind ganze Teile weggekommen da“, womit er wahllose Erschießungen durch die SS meint. Ein anderer deutscher Augenzeuge gibt pflichtgemäß seine Erinnerung damit wieder, dass die „KZ‘ler in die Scheune verbracht worden sind“.

Mit Bedacht zeigt das Metropolis den Film am Jahrestag des 38er-Pogroms, bei dem öffentlich Synagogen und Geschäfte zerstört, 30.000 Juden in Lager verschleppt wurden und über 100 Menschen den Tod fanden. Denn so wenig Widerspruch sich 1938 regte, so wenig waren die meisten Deutschen 1945 vom Anblick der Häftlinge berührt, ganz abgesehen vom Willen, irgendetwas für die vor ihren Augen Sterbenden zu tun.

In Reden des vermeintlich korrekten öffentlichen Gedenkens auch zum Jahrestag der Reichspogromnacht wird gerne der Satz „Das Vergessen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“ zitiert. Diese jüdische Weisheit hat im Kontext deutscher Erinnerungskultur an die Shoah oftmals tatsächlich die Erlösung von der Geschichte gemeint. Der Film ist ein Beitrag, solche Manöver als das zu begreifen, was sie in Deutschland noch immer sind: Flucht vor der Verantwortung für die Geschichte.

Metropolis, Dammtorstr. 30a, heute 19.15 Uhr. Di. 17 Uhr, Mi. 21.15 Uhr