: Suchspiel mit Pillen
Ringelpiez im Tekknolook, danach Gebrochenheit: Die Tanzkompanie MS Schrittmacher lädt zum „Tanz zu Tisch“
Der Tisch. Eine Platte mit vier Beinen, um die sich Menschen versammeln. Hochkant gestellt eine spanische Wand, hinter der ein Mann sich anzieht. Stehend eine Höhle, unter der eine Frau Schutz sucht. Schräg gestellt eine Rampe, auf der ein Paar in erotischer Verschlingung gleitet. Choreograph Massimo Gerardi lässt das Tanzensemble in „Tanz zu Tisch“ am Oldenburgischen Staatstheater um, auf und über Tischen tanzen. Eine schöne Idee: Anhand des veränderten Tischgebrauchs zeigt Gerardi, wie unsere Beziehungen sich verändern.
An einem hochkant gestellten Tisch kauern zwei Frauen. Hände tasten über die Tischfläche, finden sich kurz, werden zurückgezogen, wandern in den eigenen Mund. Verlegenheit. Erneutes Vortasten, eine Hand hält das Gegenüber fest, kurz, Rückzug, Arme werden verschränkt. Ein bedrückendes Suchspiel zwischen dem Wunsch nach Nähe und drohender Trennung. Ende: Sie ziehen sich über den Tisch. Ein erzwungener Kuss, dann sprengen sie auseinander. Es ist die stärkste Szene dieses weitgehend konventionellen Stückes.
Dann sind da noch: Einheitserfolgsmenschen, in Hellblau und Flanellgrau. Nehmen Platz auf Stühlen im Bus, in der U-Bahn. Stühle auf einem Tisch, Enge. Und immer ein Platz zu wenig, wie in der Reise nach Jerusalem, einer bleibt übrig. Kampf, dabei unfreiwillige Berührung, ein Bein, das über den Köpfen schwebt, eine Schulter streift, ein Kopf, der sich zurücklehnt, auf eine fremde Schulter fällt. Ein Moment der Hingabe, und dann, ein rascher Rückzug. Wieder wird ein Platz frei, die Ordnung zerfällt.
Eine präzise beobachtete und durchchoreographierte Situation, in der die Impulse unter den TänzerInnen sinnfällige Dynamik erzeugen. Doch dann wiederum springen die blaugrauen BürokarrieristInnen in Freizeituniformen, ziehen sich Pillen rein und tanzen in einer Disko ab, Ringelpiez im Tekknolook mit finalem Abgang in irgendeine Bettkiste.
Das ist peinlich naturalistisch und entwertet alles fein Gezeichnete. Und wird wieder kontrastiert, indem sich die fast entkleideten Paare in ihrer Gebrochenheit zeigen: Die Frau krümmt sich im zärtlichen Gleiten unter dem Mann wie ein Embryo, schutzsuchend, jenseits des platten exhibitionistischen Sex‘ der Diskowelt. Sita Ostheimer besticht in dieser sehr intimen Szene mit sinnlicher Tiefe, und auch in den Paarkampfszenen prägt sich ihre kraftvolle, präzise Bewegungsführung nachhaltig ein.
Marijke Gerwin
nächste Vorstellungen: 9.11. um 20 Uhr und 13.11. um 18 Uhr in der Universität, 17.11. um 15 Uhr und 24.11. um 20 Uhr im Oldenburgischen Staatstheater
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