„Ein wandelnder Vulkan“

Gespräch mit Otto Rehhagel (64), der als Nationaltrainer Griechenlands um die Qualifikation zur Fußball-EM kämpft und sich in der Heimat des Demosthenes seine alte Sprachgewalt bewahrt hat

Interview OLE SCHULZ

Otto Rehhagel: Woher kommen Sie denn aus Deutschland?

taz: Aus Berlin.

Ach, Berlin! An die Stadt habe ich schöne Erinnerungen. 1963, das Jahr, als die Bundesliga begann, bin ich zu Hertha BSC gekommen. Die ersten drei Jahre habe ich dort gespielt. Das war ein wunderbarer Anfang für einen neuen Lebensabschnitt. Denn gleich nach dem ersten Bundesligaspiel habe ich mich auf dem Dachgarten des Hilton Hotels mit meiner Frau verlobt. Mittlerweile sind wir fast 40 Jahre verheiratet – das ist heutzutage sicherlich eine Seltenheit …

Eigentlich wollte ich mit Ihnen über Ihre Tätigkeit hier in Griechenland reden. Sie sind nicht gerade als Weltenbummler bekannt. Und jetzt leben Sie auf einmal im Moloch Athen.

Athen ist eine Weltstadt, das Leben pulsiert Tag und Nacht. Schauen Sie sich doch mal um: Die großen Designer haben hier Geschäfte, an jeder Straßenecke stehen edle Karossen. Seit der Antike übt Athen eine große Anziehung auf die Menschen aus, immerhin wurde hier die Demokratie erfunden. Am liebsten sitze ich in einem Café, von dem ich auf die Akropolis blicken kann. Und nicht vergessen sollte man, dass auch schon ein Namensvetter von mir, Otto der Große, König von Griechenland, hier in der Stadt war und mit seinen Bauten gezeigt hat, wie geradlinig man eine Stadt gestalten kann.

Mir fällt eher der chaotische Verkehr in der Stadt auf.

Manchmal steht man über eine Stunde im Stau. Ich hätte am Anfang auch nie gedacht, dass ich in Athen jemals Autofahren könnte. Denn im Innersten bin ich ein richtiger Preuße. Hier ist es so: Wenn sich jemand im Verkehr nicht hundertprozentig an die Regeln hält, akzeptieren das die anderen, und irgendwie klappt es dann auch.

Sie fühlen sich also schon heimisch?

Ja, und das, obwohl ich nur einen Satz in Griechisch sagen kann: „Heute ist ein schöner Tag.“

In Deutschland gelten Sie als Perfektionist, als Liebhaber der Effizienz. Verträgt sich das mit der griechischen Mentalität?

Die Griechen sind emotionale Südländer – im positiven wie im negativen Sinne. Wenn der Ministerpräsident Simitis in ein Taxi steigt, fängt der Fahrer erst einmal an ihm zu erklären, wie er zu regieren habe. So ähnlich ist das auch im Fußball. Die Presse ist mächtig, und viele wollen mitentscheiden, da muss man stark sein.

Ihr Ziel ist es, die Griechen zur Europameisterschaft 2004 in Portugal zu bringen. Nach zwei Niederlagen in drei Spielen sieht es aber nicht ganz so gut aus.

Die beiden Auswärtsspiele gegen Spanien und die Ukraine waren Spiele, die wir nicht unbedingt gewinnen mussten – das zu Hause gegen die Armenier dagegen schon. Und das ist auch gelungen. Jetzt ist noch alles möglich. Ich versuche den Spielern klar zu machen: Wenn wir etwas erreichen wollen, müssen wir einen gemeinsamen Weg finden. Und die Leute sagen mir, dass die Stimmung im Team noch nie so gut gewesen ist wie heute.

Es heißt, sie hätten hier in Griechenland zunächst vor allem als Integrator gewirkt?

Das stimmt. Viele der Fufballfunktionäre kennen sich schon lange, da wird viel geredet und versucht, Einfluss zu nehmen. Ein Beispiel: Wenn ich mit dem Verbandspräsidenten am Abend essen gehe, wird ein Tuch über den Tisch geworfen, bis spät in die Nacht an einer langen Tafel gespeist und dabei diskutiert. Es gab auch Spieler, die zurückgetreten waren. Aber die Probleme haben wir überwunden.

Inwieweit hat die traditionelle Rivalität zwischen den beiden großen Athener Vereinen Panathinaikos und Olympiakos Piräus Einfluss auf Ihre „Aufstellungspolitik“ als Nationaltrainer?

Keine. Quotenregelungen gibt’s mit mir nicht. Es passieren aber schon verrückte Sachen: Vergangenes Jahr musste Panathinaikos unbedingt zu Hause gegen Piräus gewinnen. Vier Minuten vor Schluss gab es einen Elfmeter für Olympiakos, der zum 1:1-Endstand führte. Nach Spielschluss wurde der Schiedsrichter von aufgebrachten Fans blutig geschlagen.

Griechenlands Nachbarn, die Türken, haben bei der WM toll gespielt und sind Dritter geworden. Warum sind die Griechen nicht ähnlich erfolgreich?

Einmal ist Griechenland viel kleiner. Die Türkei hat fast siebzig Millionen Einwohner, Griechenland nur gute zehn. Die Griechen haben mit den Hauptstadtvereinen Panathinaikos, Olympiakos Piräus und AEK zudem nur drei Mannschaften von internationalem Format. Und zuletzt gibt es hier viel weniger Armut als in der Türkei. Es ist nun mal eine Art Gesetz: Je größer die Lebensqualität, desto weniger Straßenfußballer gibt es. Die Türken sind echte Bewegungskünstler, aber auch die Griechen sind alle Individualisten. Das Direktpassspiel, das die Franzosen so beherrschen, müssen sie allerdings noch lernen. Das Wichtigste ist, dass die Strukturen im Lande verbessert werden. Darum habe ich mich auch dafür eingesetzt, dass ein großes Trainingszentrum für die Nationalmannschaft gebaut wird.

Mit Ihrem Blick von außen: Was halten Sie von der These, der deutsche Fußball kranke auch daran, dass sich Deutschland bis heute noch nicht als Einwanderungsland versteht. Spieler wie Yildiray Bastürk und der WM-Newcomer Ilhan Mansiz treten für die Türkei an und Otto Addo für Ghana.

Das mag sein. Doch immerhin ist ein Spieler wie Gerald Asamoah im deutschen Kader, und der ist ja nun wirklich sehr dunkelhäutig. Andererseits können wir nicht die ganze Welt bei uns aufnehmen, auch wenn viele Menschen in sehr armen Verhältnissen leben. Als Mitarbeiter einer linken Tageszeitung wie der taz müssten Sie den Ausspruch Lenins ja kennen: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“

Herr Rehhagel, Sie gehören mittlerweile zur älteren Trainergarde. Mehr in Mode gekommen sind derweil jüngere Motivationskünstler …

Das Spiel werde im Kopf entschieden, da bleibt mir ein leises Lächeln nicht erspart. Es wird auf dem Platz entschieden und nirgendwo sonst! Und der Trainer ist derjenige, der die Spieler richtig zu motivieren hat. Wichtig sind nicht große Sprüche, sondern dass man eine Mannschaft formt. Und weil das Spiel schneller geworden ist, wird es immer entscheidender, den Umgang mit dem Ball perfekt zu beherrschen.

Apropos markige Sprüche. „Mit fünzig bist du als Trainer reif für die Klapsmühle“, haben Sie einmal gesagt. Wie ist es nun mit 64 Jahren um Ihren mentalen Zustand bestellt?

Bestens. Ich würde sagen, mir ging’s noch nie so gut wie heute. Früher war ich ein wandelnder Vulkan, heute sieht man nur noch selten Überreaktionen bei mir. Doch hätte ich damals gewusst, dass die Presse alles in der Schublade behält, hätte ich solche Dinge nicht gesagt, das war aus der Situation heraus. Wenn ich mein Leben Revue passieren lasse, muss ich trotzdem sagen, dass ich immer auf der Sonnenseite gestanden habe. Mein Vater war Bergmann und hat nichts gehabt, als er mit 39 Jahren an einer Magenoperation gestorben ist.