ulrike herrmann über Non-Profit
: Alt aussehen in Nizza

Die Jugend der Welt trägt zu kurze Pullover, weiß nicht, was sie werden soll, und – lernt Französisch

Ich bin doch gerade erst angekommen! So fühle ich mich jedenfalls. Aber die professionellen Betreuer denken schon an meine Abreise. Ich soll einen Fragebogen ausfüllen, der meinen Bildungsurlaub in Nizza evaluiert. Zwei Wochen habe ich Französisch gelernt – oder es zumindest versucht.

Wie weit ich vom Ziel entfernt bin, entnehme ich schon der ersten Frage, die sich nach meinen Lernerfolgen erkundigt, „Les cours vous ont permis de progresser en français de manière …“ Diese Eleganz wäre uns wohl noch nicht einmal auf Deutsch möglich, aber schon gar nicht „à l’écrit“ oder „à l’oral“ auf Französisch. Dennoch, ich bin großzügig, kreuze „très satisfaisante“ an. Ja, ich bin sehr zufrieden mit dem Unterricht – nur nicht mit mir selbst.

Aber es kann nicht das Problem einer Sprachschule sein, dass ich mich so vergreist fühle wie noch nie. Es begann mit der Vorstellungsrunde meiner Klasse. Im Durchschnitt, so ergab sich, waren die anderen Teilnehmer 20 Jahre alt: „J’ai vingt ans.“ Was bei den Englischsprachigen etwa so klang: „Jay wäing ong.“ Aber ich sollte mich nicht so hämisch lustig machen, denn meinen deutschen Akzent schien auch niemand zu verstehen.

Allerdings hätten meine Klassenkameraden ihr Alter gar nicht nennen müssen, so offensichtlich war ihre Jugend: Keine einzige Falte kreuzte ihr Gesicht, und ihre Haut leuchtete, als hätten sie ihre 20 Übungsjahre lang nur Milch getrunken. Außerdem, so zeigte sich auch hier, stellt der weibliche Jugendliche heutzutage seinen Bauchnabel aus – jedenfalls wenn es wärmliche 17 °C sind wie in Nizza im November. „Affig“, dachte ich, während ich die zu engen und zu kurzen Pullover betrachtete, die die Hüften freilegten. „Comme parmi les singes“ – aber diese wörtliche Übersetzung war wahrscheinlich mal wieder „pas français“, wie unser Lehrer Jean-Philippe jeden Fehler so höflich umschreibt.

Doch noch während ich das dachte, war ich schockiert („choquée“ en français): Ich benehme mich ja wie eine altmodische Großmutter! Also versuchte ich wieder gutzumachen, was ich doch nie öffentlich gesagt hätte, als die Vorstellungsrunde mich erreichte: „Je pense que je suis la plus vieille ici.“

In der Pause nahm mich Susan (19) beiseite: Also, mein Alter, das hätte ich doch gar nicht erwähnen müssen! Ihre Mutter sei kaum älter als ich! Das war anscheinend als Trost gemeint – und als ein Gesprächsangebot zwischen den Generationen.

Und Susan vertraute mir denn auch gleich an, dass sie nicht wisse, was sie werden solle. Sie könne nur sagen, was sie keinesfalls sein möchte: eine Chemikerin, wie ihre Mutter. Die Halbchinesin aus Washington rührte mich, denn diesen Wunsch nach Abgrenzung kenne ich, auch die jahrelange Suche. Ich versuchte, ein Jahrzehnt meines Lebens in zwei Sätzen zusammenzufassen, aber Susan lächelte nur freundlich; meine Erfahrungen sind noch nicht ihre.

Oder meine Tischnachbarin Janet aus Toronto: Ich war ratlos, als sie, noch Studentin, mir schilderte, wie sie sich ihre Zukunft vorstellt. Nämlich Job, Heirat, Kinder. Ich konnte ihr unmöglich sagen, dass mich diese Sicherheit der Lebensplanung erstaunt, dass es doch anders kommen kann. Warum sollten ihr solche Binsenweisheiten weiterhelfen – und welches Recht hätte ich, sie zu äußern? Also fiel mir nur ein „c’est intéressant“ ein, was weitere Gespräche beidseitig uninteressant machte.

Im Unterricht behandelten wir so jugendhafte Themen wie Graffitisprühen. Von Jenni aus Miami lernte ich, dass die illegalen Wandmalereien beim US-Nachwuchs nicht mehr „populaire“ seien. Aha. Und was ist jetzt angesagt – außer dem freien Bauchnabel? Aber noch bevor ich dies, neutraler natürlich, hätte fragen können, raste eine Frage auf mich zu. Jean-Philippe, immer bemüht, alle Schüler einzubeziehen, wollte von mir wissen, wie sich die Graffitiszene in Berlin gestaltet. Keine Ahnung, aber das werde ich jetzt nicht zugeben. Also behauptete ich etwas vage, „à Berlin chacun peut faire ce qu’il veut“. Alle nickten, ein Glück, das Fragespiel drehte sich zum Nächsten. Anscheinend hat sich international inzwischen durchgesetzt, dass Berlin die europäische Hauptstadt der Anarchie ist.

In der ganzen Sprachschule traf ich nur einen Altersgenossen: einen schwäbischen Ingenieur, der demnächst Hydraulikbremsen in Frankreich vertreiben wird. In einer Pause blickten wir nach Westen, Richtung Antibes. „Dort soll es ja Kurse für Geschäftsleute geben“, sagte er, und mehr sagten wir dazu nicht. Aber ich bin mir sicher, dass er auf die letzte Frage des Bewertungsbogens antworten wird wie ich: „Oui“. Ja, wir werden diese Schule in Nizza weiterempfehlen.

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