Kapitalisten bauen Sozialismus auf

In China verteidigt der scheidende KP-Chef Jiang Zemin bei der Eröffnung des 16. Parteikongresses die „Befreiung und Entwicklung der Produktivkräfte“, womit er den „Sozialismus chinesischer Prägung“ mit den Kapitalisten versöhnen will

aus Peking GEORG BLUME

Wie eine ganze Schule auf dem Schulausflug sind sie gestern in Bussen auf den Platz des Himmlischen Friedens gefahren: die 2.014 Delegierten des 16. Parteitags der KP Chinas, die man wie Kinder behandelt. Draußen auf dem Platz dürfen sie lachen und Fotos machen, drinnen in der Großen Halle des Volkes aber müssen sie still sitzen, wenn der Lehrer ihnen vorliest. Damit sie anschließend ihre Lektion herbeten können: „Der Vorteil unserer Partei ist, dass sie mit der Zeit Schritt hält und ihre Gesetzmäßigkeiten erfasst“, zitiert die Parteitagsdelegierte Bai Xuejie, Chemiemodellarbeiterin aus der nördlichen Provinz Liaoning, den Parteichef Jiang Zemin.

Die brave Bai im dunkelroten Wollkleid hörte Jiang vorher 90 Minuten lang der Eröffnung des Parteitages gut zu. Eifrig betont sie gegenüber der taz, dass „die Demokratie in China große Fortschritte mache“. So ist das mit Kindern: Lügengeschichten bleiben ihnen immer am besten in Erinnerung. Jiang aber geht es auf dem nur alle fünf Jahre tagenden Parteikongress um etwas ganz anderes: „Eine marxistische Regierungspartei muss großen Wert auf die Befreiung und Entwicklung der Produktivkräfte legen“, lautet ein Schlüsselsatz.

Der auf diesem Kongress aus dem Amt scheidende Parteichef formuliert damit sein Vermächtnis. Nicht nur in der Praxis wie unter seinem Vorgänger Deng Xiaoping („Reich werden ist glorreich“), sondern auch in der Theorie will Jiang seine Partei mit dem Kapitalismus versöhnt sehen. Dazu ersann er die „Theorie der drei Repräsentationen“, die er gestern erläuterte. Ihr zufolge vertritt die Partei nicht mehr nur Arbeiter und Bauern, sondern auch die „ fortschrittlichen Produktivkräfte“, die „fortschrittliche Kultur“ und die „überwiegende Mehrheit des Volkes“.

Jiang zählt auf, wer sich nun als „Erbauer des Sozialismus chinesischer Prägung“ betrachten darf, nämlich „Gründer und Techniker nichtstaatseigener Unternehmen, von Unternehmen mit ausländischem Kapital angestelltes Personal und Freiberufler“. Er hätte auch sagen können: „Kapitalisten aller Länder dienen der Sache des Sozialismus.“ Aber das würde das Parteichinesisch noch nicht erlauben.

Ohnehin ist Jiang kein Alleinherrscher, sondern dem Kollektiv des Politbüros verpflichtet. Da ist es schon eine große Ehre, wenn er die „historischen Erfolge der vergangenen 13 Jahre“ seiner Amtszeit bilanzieren darf statt nur die fünf Jahre seit dem letzten Parteitag. Zugleich kündigt Jiang damit seinen Rücktritt an. Schon richten sich alle Blicke auf Hu Jintao, der zwei Stühle neben Jiang sitzt. Hu steht dem 16. Parteitag als Generalsekretär vor und ab nächsten Freitag wohl auch der Partei – nur offiziell will das noch niemand sagen. Pekings Zeitungen sind voller Lobeshymnen auf den Parteitag, dessen wichtigste Aufgabe es ist, eine neue Parteiführung zu bestimmen. Nur ein Name taucht dabei nicht auf: der des designierten Parteichefs Hu. Auch die Delegierte Bai erwähnt ihn nicht. Warum sollten Kinder auch wissen wollen, wer sie am nächsten Tag unterrichtet?

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