die liebe in den zeiten der fristverlängerung von JOCHEN REINECKE
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Briefe vom Finanzamt kommen immer freitags. Man fischt sie am späten Nachmittag mit tremolierenden Fingern aus dem Briefkasten, hofft, dass nichts darin geschrieben steht von einer schmerzlich vermissten Einnahmenüberschuss-Rechnung oder ähnlicher Unbill. Meistens steht aber doch so etwas darin. Genau so etwas. Nicht selten auch sind in solchen Schreiben besonders schmerzende Stellen mit gelbem Textmarker geschmückt.

Dabei ist man bereits gedanklich aufs Wochenende fixiert, auf das Verprassen fleißig herangeschaufelter Mehrwertsteuererlöse in düsteren Etablissements – das ist jetzt alles Schall und Rauch, im Kopf mahlt es schon: „Ich brauche erst mal eine Fristverlängerung.“ Die Fristverlängerung ist wie eine Penisverlängerung, zunächst wirkt sie vitalisierend, doch schnell stellt sich heraus, dass sie substanziell nichts verändert. Trotzdem, wir denken ja gern nur bis morgen. Warum nicht also jetzt, schnell im Finanzamt des Vertrauens anrufen und „ochbötte, göbt mir noch ein, zwei Wochen“ sagen.

Nein. Eben nicht. Es ist Freitag. Finanzamtpostfreitag. Da ist schon mittags Feierabend. Damit man am Wochenende noch mal drüber schläft und nicht gleich telefonisch nerven kann. Bis Montag hält man es dann sowieso nicht aus, entwirft folgerichtig noch am selben Tag schriftliche Bettelgesuche und ähnliche Pamphlete, die später gemütlich abgearbeitet werden können.

So in etwa sah es in meinem liebevoll zurechtgezimmerten Vorurteilshäuschen aus. Aber die Wirklichkeit, sie ist anders.

Am vergangenen Freitag tat ich das Unfassbare. Ich rief außerhalb der Telefonsprechzeiten beim Kuschelfinanzamt Berlin-Schöneberg an. Nach dem ersten Klingeln hob jemand ab. Eine angenehme Damenstimme flötete: „Guten Tag, Schmittering!“ Ich war so verdutzt, dass ich beinah wieder aufgelegt hätte. Sagte dann aber doch meine vorher genau ausbaldowerte Geschichte auf: „Guten Tag, Reinecke hier, meine Steuernummer ist 513/48809, ich habe von Ihnen eine Erinnerung zur Abgabe der Einkommensteuererklärung für das Steuerjahr 1998 bekommen. Jetzt bin ich im vergangenen Jahr Vater geworden und da ist …“ Frau Schmittering unterbrach mich sofort: „… Ihnen alles über den Kopf gewachsen, nicht wahr?“ – „Woher wissen Sie?“, entgegnete ich matt. „Sie möchten eine Fristverlängerung! Reicht ein halbes Jahr?“

Es pfiff in meinem Schädel. Wer kennt das nicht? Vier Stunden auf dem selben Fleck gesessen, zu viel getrunken, zu viel geraucht, dann zu schnell aufgestanden. So fühlte ich mich jetzt. Ich stammelte: „Und das geht tele …, telefonisch? Einfach so?“ Es ging. „Und ich muss jetzt nicht noch schriftlich irgendwas hinterher …“ – „Nein Herr Reinecke, das habe ich alles im Computer. Zum 31. Mai 2003 müssen Sie dann aber wirklich alles einreichen. Letzter Termin, okay?“

Ich ließ den Hörer langsam aus der Hand sinken. Eine Schweißperle rann einsam aus der linken Achselhöhle meinen Körper hinab, färbte mein Hemd leicht ein. Ich weiß jetzt, dass man Finanzbeamte lieben kann. Es geht tatsächlich.