Der Glanz der Streckbank

Die Woche der Verlängerung: Anton Träger ist Professor für Prolongextension

Vor uns öffnet sich ein Labyrinth der Wissenschaft, in dem schaurige Schätze lagern

Der lang gezogene Kiesweg führt hinauf zu einer alten Villa in den Hügeln um Marburg. Hier also ist Anton Träger zu Hause, Inhaber des weltweit einzigen Lehrstuhls für Prolongextension, die Theorie und Praxis der Verlängerung. Trotz der kühlen Novembertemperaturen liegen Studenten auf dem Rasen im Garten – zwischen Langkornreispflanzen und merkwürdig geformten Objekten. Und mitten zwischen ihnen hindurch läuft einer kleiner, kugeliger Mann, mit einem runden Kopf und einer Glatze, die von einem schütteren Haarkranz gehalten wird. Wie abwesend spricht er vor sich hin, aber seine Schüler hängen an seinen Lippen, verfolgen gebannt jedes Wort: „Borneo – wieder so ein Fall! Nicht die Kürze des Moments beherrscht …“ Als er uns entdeckt, bricht Professor Träger seinen Vortrag ab und schreitet auf uns zu. Seine Miene strahlt die Freundlichkeit eines Gelehrten aus, der in seinem langen Leben alles gesehen hat. „Das war nur eine kurze Einführung. Wir sind sowieso schon über der Zeit. Das müssen wir ein andermal in aller Ausführlichkeit erörtern“, wendet er sich noch einmal an seine Hörer, beendet damit die Vorlesung und bittet uns ins Haus. An der Eingangstür hängt ein Metallschild mit der Aufschrift: „Villa Riese“.

Nein, seine Studenten würden sicher nicht frieren, beantwortet er unsere Frage nach der Gartenvorlesung im November: „Sie verlängern innerlich die warme Jahreszeit, den Sommer. Hier haben sie bereits einen entscheidenden Wesenszug der Prolongextension: Die innere Einstellung wird ausgedehnt“, doziert Träger und wärmt sich die klammen Hände an einem Heizofen in der Vorhalle des Instituts.

Vor uns öffnet sich ein Labyrinth der Wissenschaft. Die Räume sind zugestellt mit Bücherregalen, Vitrinen und Schränken, in denen die Schätze lagern, die Träger im Lauf seines langen Forscherlebens gesammelt hat. Hauchdünne Ohrläppchen der Akuzi-Indianer aus Borneo, einige über 30 Zentimeter in die Länge gezogen, „mit Bindfäden und Steinen“, wie Träger anmerkt. Daneben sehen wir chinesische Langfüße: „Die Füße wurden ab der frühen Kindheit in schraubstockähnlichen Eisenschuhen zusammengepresst, eine gesellschaftliche Gegenbewegung zum traditionellen Schnürfuß.“ Ein Prunkstück seiner Sammlung ist der Riesenpenis eines nepalesischen Schamanen: „In Wahrheit handelt es sich hier um einen Stock, der in die Harnröhre eingeführt und dann eben nicht wieder herausgezogen wird.“ All dies wird präsentiert in großen Gläsern, eingelegt in Alkohol. Dann führt uns Träger zu einer westfälischen Streckbank, auf der wir uns niederlassen. Dies sei zugleich „Glanz und Schrecken der europäische Folterkultur“, erklärt er und streicht sanft über das dunkle Eichenholz.

Habilitiert hat Träger über das Erdman’sche Extensions-Theorem, wonach alle Verlängerung auf den Wunsch nach einer zweiten Chance zurückzuführen sei, so Stanislaus Erdman in seinem Klassiker „Das Kleine und das Gestreckte“, erschienen 1952 in Paris bei Gallimar. Träger hatte seinerzeit das Theorem erweitert um den Begriff der Entscheidung, demzufolge es nicht nur um die zweite Chance geht, sondern auch darum, noch nicht erledigte Konflikte in der Verlängerung konfrontativ zu erledigen, was er am Beispiel der Fußballweltmeisterschaft in England 1966 bewies (Anton Träger: „Die Kultur der Verlängerung“, Suhrkamp 1972).

Nach Erscheinen seines Buches war es still geworden um Träger. Lange Jahre hielt sich das Gerücht, er sei auf einer Expedition durch Georgien, auf den Spuren Erdmans, an Malaria gestorben, oder er habe sich gar das Leben genommen, um zu beweisen, dass es im richtigen Leben keine Nachspielzeit gibt. Tatsächlich hatte er zunächst unbemerkt von der Öffentlichkeit das Prolongextensions-Institut in Marburg aufgebaut. Ausgedehnte Forschungsreisen trieben ihn in die Welt hinaus, ab und zu veröffentlichte er kleinere Artikel in der renommierten Fachzeitschrift Science Review. Neuerdings sind seine Schriften auch unter www.unimarburg.de/prolongextension im Internet zu finden. Wir waren auf seine Spur gestoßen während der Recherche zu einem neuen Buch, „Seltsame Sex-Gelehrte“, das im kommenden Jahr im Eichborn Verlag erscheinen soll – in der Hoffnung, an die Verkaufserfolge von „Seltsamer Sex“ und „Noch mehr seltsamer Sex“ anknüpfen zu können.

Gerade die menschliche Sexualität ist ein Spezialgebiet Trägers: „Verlängerungen zur Unzeit an der falschen Stelle, das ist doch, was unsere Gesellschaft heute provoziert. All dieses Leid aus Neid“, redet er sich jetzt in Rage, „höher, schneller, länger – die moderne Konsumgesellschaft verliert alle Maßstäbe.“ Träger wirkt plötzlich erschöpft: „Aber wo ich helfen kann …?“ Gelegentlich tritt er nämlich als Gutachter vor Gericht auf, außerdem behandelt er auch Privatpatienten, die unter psychischen Folgeschäden gescheiterter Verlängerungsversuche leiden. „Falls Sie jemanden kennen, der mich braucht, zögern Sie nicht, mich zu benachrichtigen.“ Sorgenfalten zerfurchen seine Stirn bei der Vorstellung, irgendjemand in der Welt könne unter einer Verlängerung leiden.

„Und jetzt gehe ich ins verlängerte Wochenende!“ Plötzlich strahlt der kugelförmige Mann wieder eine immense Energie aus. Fröhlich geleitet uns Professor Träger zur Tür hinaus. Offenbar spürt er unsere Verwunderung über seine Arbeitszeiten nicht, ist es doch heute erst Dienstag. „Ein langes Leben noch“, winkt er uns hinterher, während wir nachdenklich den endlosen Kiesweg hinabsteigen. Tatsächlich kennen wir da jemanden, der die therapeutische Hilfe von Professor Anton Träger dringend gebrauchen könnte.

VOLKER HEISE/MICHAEL RINGEL