Merkel braucht Stehvermögen

Ihren Amtsvorgängern und engsten Mitarbeitern, Wolfgang Schäuble und Friedrich Merz, wird kein Fehler, kein Straucheln von Angela Merkel entgehen

Die Parteichefin hat sich nicht nur Freunde gemacht, und ihren Verbündeten hat sie wenig anzubieten

aus Hannover BETTINA GAUS

Der traditionelle Presseabend der CDU am Vorabend des Parteitags war dieses Mal richtig gemütlich – alle hatten viel Zeit, entspannt zu plaudern. Wer zieht welche Strippen, mit welchem Ziel und mit welchen Erfolgsaussichten? Diese Fragen stehen normalerweise im Mittelpunkt derartiger Veranstaltungen, auf denen hunderte von Journalisten gemeinsam die wenigen, gut informierten Gesprächspartner jagen, die über Interna reden mögen. Am Sonntagabend: nichts von alledem. Warum auch? In der CDU gibt es derzeit weder offene Machtkämpfe noch heimliche Intrigen. Stoiber hat verloren, Merz auch. Die Siegerin heißt Angela Merkel. Sie ist auf dem Gipfel der Macht angekommen. Eine schwierige Position. Der Abstieg droht.

Eigentlich ist die CDU-Vorsitzende eine begabte Rhetorikerin. Eigentlich. Woran hat es nur gelegen, dass sie gestern so seltsam uninspiriert und blass wirkte? Ihre Rede enthielt doch all das, was Delegierte einer Oppositionspartei lieben: heftige Angriffe auf die Regierung und besonders auf den Bundeskanzler. Der „Lüge“ hat sie ihn geziehen und ihm bescheinigt, „dramatisch versagt“ zu haben: „Alles versprochen und nichts gehalten.“ Den eigenen Mitstreitern versprach Angela Merkel eine goldene Zukunft: „Rot-Grün wird die Quittung bekommen – und zwar schon sehr bald.“ Nämlich bei den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen.

Das ist gut für Deutschland und gut für die Menschen – aus Sicht der CDU. „Könnten wir es denn wirklich besser?“, fragte Merkel mit Blick auf die Politik der Bundesregierung. Und gab sofort die wenig überraschende Antwort: „Ich sage ernsthaft: Ja!“ Wie würde sie es denn konkret anstellen? Das hat die Parteivorsitzende gestern nicht verraten. Nur so viel: Die „Rückkehr des Politischen“ müsse eingefordert werden. Und der neu gewählte Bundesvorstand soll nun eine Kommission einsetzen, die 2003 ein umfassendes Reformpaket der sozialen Sicherungssysteme erarbeitet.

Weit über eine Stunde hat Angela Merkel geredet. Hessens Ministerpräsident Roland Koch hingegen sprach nur wenige Minuten. Die aber hatten es in sich. „Dieser Koalitionsvertrag muss neu geschrieben werden. Können wir das bewirken? Meine Antwort ist: Ja.“ Der Wahlsieg der CDU bei den letzten hessischen Landtagswahlen habe zu einem Kurswechsel der SPD geführt. Jetzt müsse das Ergebnis der kommenden Wahlen in Hessen und Niedersachsen den Bundeskanzler zwingen, am Tag danach zu sagen: „Ich werde den Koalitionsvertrag neu schreiben.“

Angela Merkel lässt eine Kommission einsetzen. Roland Koch behauptet selbstbewusst, bestimmenden Einfluss auf die Bundespolitik nehmen zu können. Deutlicher hätte sich kaum illustrieren lassen, wer in der Union gegenwärtig das Heft in der Hand hält. Es ist offenkundig nicht die „neue, starke Frau der CDU“. Über den sicheren Machtinstinkt von Angela Merkel ist viel geschrieben worden, auch über die Demütigung, die es für Friedrich Merz bedeutet hat, sich zum Stellvertreter der Politikerin wählen lassen zu müssen, die ihn aus dem Fraktionsvorsitz gedrängt hat.

„Könnten wir es denn wirklich besser?“, fragte Angela Merkel. „Ich sage ernsthaft: Ja!“

Für die Parteivorsitzende mag es ein Augenblick des Triumphs gewesen sein, als sie endlich auch das Amt der Fraktionschefin übernehmen durfte. Aber auf Augenblicke des Triumphs folgen stets die Mühen der Alltagsarbeit. Angela Merkel hat sich in den letzten Jahren in der Partei nicht nur Freunde gemacht, und ihren Verbündeten hat sie wenig anzubieten: keine Posten, nicht einmal größere Gefälligkeiten. Zu ihren engsten Mitarbeitern gehören mit Friedrich Merz und Wolfgang Schäuble nun zwei ihrer Vorgänger. Denen wird kein Fehler und kein Straucheln von Angela Merkel entgehen, auch jene nicht, die öffentlich unbemerkt bleiben. Das dürfte für sie noch ziemlich anstrengend werden.

Die Hauptaufgabe einer Oppositionsführerin ist die programmatische und inhaltliche Kursbestimmung. Was hat Angela Merkel in dieser Hinsicht anzubieten? Die christliche Orientierung. „Das ‚C‘ macht uns zukunftsfähig“, sagte die Politikerin, die es vor Wochen als vordringliche Aufgabe der CDU bezeichnet hat, die Frauen und die städtische Bevölkerung zurückzuerobern. „Als Christdemokraten sehen wir den Menschen mit anderen Augen. Wir sehen ihn in seiner Beziehung zu Gott und zu den Menschen.“ Wird sich die CDU damit neue Wählerschichten erschließen?

Etwas immerhin ist Angela Merkel gelungen: Mit diesem Ausflug ins Transzendentale hat sie viele Zuhörer überrascht. Es blieb die einzige Überraschung des Parteitags. Die Wiederwahl der Vorsitzenden mit 93,7 Prozent der Stimmen war keine, und wenig erstaunlich waren auch die Wahlergebnisse ihrer Stellvertreter: Der niedersächsische Spitzenkandidat Christian Wulff sollte mit der Zustimmung des Parteitages gestärkt in den Wahlkampf ziehen dürfen, im noch besseren Ergebnis von Annette Schavan spiegelte sich die große Popularität der Landesministerin aus Baden-Württemberg. Erwartungsgemäß deutlich schlechter haben Jürgen Rüttgers aus NRW und Christoph Böhr aus Rheinland-Pfalz abgeschnitten. Beiden wird, zumindest derzeit, wenig zugetraut. Ach ja: Und bei den Wahlen fürs Präsidium haben Friedrich Merz und Roland Koch besonders gut abgeschnitten. Ob das Angela Merkel freut?