Sinnenapparat mit Verantwortung

Trotz finanzieller Engpässe hat die „projektgruppe neue musik“ auch dieses Jahr eine konzertante Tagung auf die Beine gestellt. Nachgegangen wird dabei der Frage nach der Reaktion und der Wirkmacht der Kunst auf Politik und Wirtschaft

Einen Schwerpunkt bilden Kompositionen von Israelis und Palästinensern

Die Bremer „projektgruppe neue musik“ tut gut daran, folgende Aussage des Komponisten Helmut Lachenmann in den Mittelpunkt ihrer 12. Musik-Tagung zu rücken, die am kommenden Wochenende thematisch gruppierte Konzerte, Diskussionen und Vorträge präsentiert. „Es geht in der Kunst um einen humanen Anspruch, der nicht einfach nur mit Mitleid oder sozialer Gerechtigkeit zu tun hat, sondern mit Verantwortung für seinen Sinnenapparat.“ Denn diese Formulierung lässt feinere Abstufungen zu, als es blockartig dastehende Worte wie Musik/Politik/Wirtschaft täten.

So bleiben Fragen, wie denn der Anspruch, mit der „Verantwortung für den Sinnenapparat“ das Kleine (Innere) mit dem Großen (Äußeren) sinnvoll in Beziehung zu setzen, zu realisieren sei. Wie konkretisiert man politische und gesellschaftliche Vorgänge und Zustände, wie konkretisiert man schließlich die eigenen Fragen und Unsicherheiten – wenn das eigene Betätigungsfeld die Kunst ist?

Eine wichtige Reminiszenz ist das Klavierstück „The People United Will Never Be Defeated“ (1975) des amerikanischen Komponisten Frank Rzewski. Es basiert auf dem klassischen chilenischen Widerstandslied „El pueblo...“. Bald nach der Machtübernahme durch die Putschisten um Pinochet nimmt er die bekannte Melodie zum Ausgang seiner Klaviervariationen.

Das einzige der neueren Stücke, dessen Klangmaterial direkt aus der außermusikalischen politischen Wirklichkeit stammt, ist „Genove VII2“ (2001). Georg Bönn, Jahrgang 1965, manipuliert in diesem Tonbandstück O-Töne um den in vielerlei Hinsicht paradigmatischen Weltwirtschaftsgipfel in Genua.

Einen Schwerpunkt, der Möglichkeiten der Musik in Auseinandersetzung mit dem Politischen nachspürt, bilden neuere Kompositionen von palästinensischen und israelischen Komponisten. Samir Odeh-Tamimi, Dror Feiler und Yuval Shaked äußern sich klanglich und politisch unterschiedlich.

Gut, dass neben den zahlreichen Stücken auch wieder Werkgespräche und Podien vorgesehen sind, bei denen sich die Zuhörenden in den schwierigen Zusammenhang hineinfragen können. Wie schwierig der Transfer zwischen Gesellschaft und Musik ist, mag Shakeds ironisch-widersprüchlicher Zyklus-Titel „Klavierstudien für Anfänger in der Politik“ andeuten.

Einen wieder anderen Zugang wählt der Bremer Christoph Ogiermann, Jahrgang 1967. Die „sinnliche Metapher“, die sein zum Abschluss des Eröffnungskonzerts uraufgeführtes Stück „DIF“ für fünf Blockflöten und Zuspielband trägt, hängt mit dem Consort-Gedanken zusammen: „Die fünf Instrumente gehören zu einer Familie, spielen aber einzeln. DIF ist auch der Ausdruck des Wunsches nach einem kollektiven Leben, bei dem die Eigenheiten gewahrt bleiben, ohne dass sich alle sofort in einen bedingungslosen Konkurrenzkampf begeben müssen.“

Mit zwei Stücken des Altmeisters Vinko Globokar und einer Uraufführung von Klaus Huber präsentiert die Tagung auch große Namen. „Reaktionen“ verspricht, kontrovers zu werden – ästhetisch wie politisch. Vielleicht gelingt es tatsächlich, alte Fragen noch einmal neu und anders zu formulieren. Bemerkenswert nicht zuletzt, wie das Festival, das bis vor einiger Zeit noch auf der Finanzierungs-Kippe stand, nun doch daherkommt. Der Wegfall einiger Sponsoren führte zum Sparzwang. Ein Blick ins Programm zeigt, dass es in einem Kraftakt der pgnm gelang, den Versuch, „inhaltlich keine Abstriche zu machen“, erfolgreich auszuführen.

Tim Schomacker

Die Konzerte, Vorträge und Diskussionen unter dem Titel „Reaktionen. Musikalischen Konfrontationen mit der politischen Gegenwart“ finden von 15. bis 17. November an verschiedenen Veranstaltungsorten ( u.a. Galerie Rabus, Sendesaal) statt. Nähere Informationen: www.pgnm.de