strafplanet erde: pubertätsverlängerung von DIETRICH ZUR NEDDEN
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Die „Letzte Ölung“ von Robert Gernhardt habe ich im Augenblick nicht zur Hand, erinnere mich aber an den Titel einer Satire darin, die „Vom Wunderkind zum Spätentwickler“ heißt. Diese gegenläufige, möglicherweise sogar parabelförmige Dualität passe auch zu meiner Biografie, so redetete ich mir ein, wenngleich eventuell vorhanden gewesene Hinweise über mein Dasein als Wunderkind als verschollen gelten müssen. Aber Spätentwickler stimmte zweifellos.

Vielleicht könnte man auch von wer weiß wie offener, grenzenloser Adoleszenzverlängerung reden, die man in der allgemein herrschenden Definierungsschwäche übrigens niemals mit Penisverlängerung verwechseln sollte und nur allzu unbedacht mit Pubertätsverlängerung gleichsetzt, worüber gelegentlich bei Freud nachzulesen wäre, und zwar da, wo es steht.

Dem unter Adoleszenzverlängerung Leidenden eignet übrigens eine gewisse fahrige Sprunghaftigkeit, die mich dazu zwingt, ein erfundenes Freud-Zitat einzufügen, das aus dem amerikanischen Spielfilm „Lovesick“ stammt. Dudley Moore spielt einen Psychiater, dem der Geist Sigmund Freuds erscheint, dargestellt von Sir Alec Guinness: „Ich dachte, eine interessante Idee gehabt zu haben. Mir kam nie der Gedanke, dass daraus eine Industrie werden würde.“

Etwa zehn Jahre, nachdem der Film floppte, schrieb mir ein Mann, den ich als einen bärbeißigen, grauen, hartherzigen Menschen kennen gelernt hatte, während ich Mieter einer seiner zahlreichen Wohnungen gewesen war: „Wann werden Sie endlich erwachsen?“ Dabei hatte ich nur die Rückzahlung der Mietsicherheit angemahnt, die er aber längst auf ein Konto, das nicht mehr existierte, überwiesen hatte. Ich schrieb zurück: „Wenn Erwachsensein bedeutet, so wie Sie zu werden, dann verzichte ich gern darauf.“ Und schickte den Brief nie ab.

Gab es da nicht mal einen Saison-Seller „Von der Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden“? Nie gelesen, lieber nicht. Denn man muss ja erwachsen werden. Es bleibt einem gar nichts anderes übrig. Behauptete sinngemäß jedenfalls ein Soziologie-Professor, dem ich im Erscheinungsjahr jenes Buches während einer meiner Stippvisiten in der Uni begegnete, zu einem Zeitpunkt, als die Studentenschaft streikte, ohne mich vorher davon in Kenntnis zu setzen. Da stand also dieser Spezialist für Fourier und Feuerbach und teilte der nachwachsenden Generation mit, Erwachsensein bedeute, etwas zu tun, „obwohl es schon die Eltern getan haben“. Oder so ähnlich, ist auch egal. Dennoch kam mir die akademische These neulich wieder in den Sinn, als ich in einem Zeitungsartikel über Alfred Grosser las, dass er kein Linksintellektueller sein könne, weil er „sehr früh ins Bett geht und sehr früh aufsteht“.

Nächtelanges Grübeln folgte, ob ich ein Linksintellektueller wäre. Je gewesen war? Es einmal werden würde? Ob ich das dann sein wollte? Denn allein schon das Intellektuelle passt nicht zur verlängerten Adoleszenz ad infinitum. Das weiß ja jedes Kind, das sich ansonsten über das Leben wundert.