Im Dienste der Menschenrechte

Die tschetschenische Anwältin Lidiya Jusupova wird von der Vereinigung Demokratischer JuristInnen ausgezeichnet

„Mit fehlen die Worte, so viel Aufmerksamkeit habe ich nicht verdient. Ich habe nicht viel erreicht, obwohl ich alles versucht habe“, sagt die tschetschenische Anwältin Lidiya Jusupova. Vor vier Tagen, am 9. November, wurde sie für ihr Engagement und ihre Menschenrechtsarbeit mit dem Hans-Litten-Preis der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen ausgezeichnet. Persönlich entgegennehmen konnte sie den mit 2.500 Euro dotierten Preis nicht. Eine Kontrolle der russischen Miliz in Moskau verhinderte ihr pünktliches Erscheinen in der Deutschen Botschaft. Auch die nachträgliche Ehrung, die gestern in Berlin stattfand, wäre fast gescheitert – am BGS. Der wollte die Juristin zuerst nicht vom Flughafen lassen, weil sie nicht genug Bargeld bei sich hatte.

Doch Kontrollen und Schikanen können Lidiya Jusupova nicht mehr erschüttern. Sie sind für sie, genauso wie für die meisten Tschetschenen, Alltag. In ihrer fast vollständig zerstörten Heimatstadt Grosny steht alle 500 Meter ein russischer Kontrollposten, der, je nach Tageslaune, im besten Fall nur die Ausweispapiere verlangt. Seit dem Drama im Moskauer Musicaltheater würden auch immer häufiger Frauen Opfer dieser Kontrollen, sagt Jusupova, wohl eine Reaktion darauf, dass auch so genannte Kämpferinnen unter den Geiselnehmern waren.

Seit knapp zwei Jahren leistet die studierte, unverheiratete Philologin und Juristin ihren Landsleuten unentgeltlich Rechtsbeistand. Sie ist Mitglied des Anwaltskollegiums Tschetscheniens, arbeitet im örtlichen Rechtsschutzzentrum der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial und unterrichtet auch noch an der juristischen Fakutät in Grosny.

In der Mehrzahl der Fälle wenden sich Menschen, deren Verwandte unrechtmäßig verhaftet wurden oder spurlos verschwunden sind, an Lidiya Jusupova. Dabei ist das Muster immer das gleiche: nächtliche Razzien Maskierter, deren Kennnummern unkenntlich gemacht sind. Doch trotz allen Einsatzes von Jusupova: Rund 90 Prozent der Verschwundenen, so sagt sie, tauchen nie wieder auf. Das Schlimmste dabei sei die absolute Recht- und Gesetzlosigkeit, und der sei sie, als Anwältin, genauso schutzlos ausgeliefert wie die Opfer. Plötzlich ringt Jusupova einen kurzen Moment um Fassung, bevor sie gestikulierend und in schnellem Tempo beginnt, von den alltäglichen Gräueln zu berichten. „Ich werde da immer ganz emotional“, sagt sie fast entschuldigend. Und erzählt von einem jungen Mann, der schreiend die Leiche seines zweijährigen Sohns an sich presst, oder von einem jungen, 22-jährigen Mädchen, dessen Beine nach einer Granatenexplosion wie die Glieder einer leblosen Puppe herabbaumeln.

Jetzt, nach dem Geiseldrama, hat die Juristin vor allem vor einem Angst: „Gestern waren es die Männer, heute sind es die Frauen und morgen werden es die Kinder sein“, sagt sie. Mitglieder der föderalen Truppen hätten vor zwei Wochen angekündigt, in dem Dorf Katajan eine Schule, die derzeit wiederaufgebaut wird, zu zerstören – „mitsamt den Kindern“. „Ist das vielleicht der Sinn des Antiterrorkampfes?“, fragt Lidiya Jusupova. Einen Traum hat sie aber: „Ich möchte, dass Grosny so wird wie Berlin. Berlin war auch zu großen Teilen zerstört, aber es wurde wieder aufgebaut.“

BARBARA OERTEL