Knipsende Modellarbeiter

In Peking tagt der Kongress der Kommunistischen Partei, doch die Bevölkerung erfährt von nichts, und auch viele Delegierte haben gar nicht den Anspruch mitzureden

PEKING taz ■ Schon seit Freitag tagt der nur alle fünf Jahre stattfindende Kongress der Kommunistischen Partei. Morgen geht er bereits wieder zu Ende, bevor am Freitag die neue Führung bekannt gegeben wird. Doch seit der scheidende Parteivorsitzenden Jiang Zemin am ersten Tag den Rechenschaftsbericht verlas, wurde keine einzige Erklärung abgegeben und keine einzige Delegiertenstimme zugelassen, die Chinas Öffentlichkeit erlaubt hätte, Einblick in die Diskussionen des Parteitags zu nehmen.

Verzweifelt sucht man nach Neuigkeiten: „Zehn Delegierte aus den Provinzen Hebei und Fujian, die alle im November geboren wurden, feierten fröhlich ihren Geburtstag zusammen“, berichtet die gewöhnlich durchaus informative Pekinger Jugendzeitung und zitiert eine Delegierte mit dem Spruch: „Das ist der schönste Geburtstag in meinem Leben.“ Auf diesem Niveau läuft die gesamte Medenberichterstattung, falls nicht aus dem Bericht des Vorsitzenden zitiert wird. Es zeigt sich, dass viele Delegierte im Alltag keine politischen Geschäfte verfolgen. Sie wurden von der Partei als symbolische Vertreter ihrer Regionen ausgewählt. Deshalb sind viele so genannte Modellarbeiter beim Parteitag anwesend.

Schon zum zweiten Mal dabei ist Busschaffnerin Li Suli, die in Peking aufgrund ihres legendären Fleißes als „Tochter des öffentlichen Verkehrs“ von Partei und Medien verehrt wird. Doch Li ist darüber nicht zur Politikerin geworden. Sie sagt von sich ehrlich, dass sie „gewissenhaft die Vorträge und den Geist des Parteitages lernen wolle“. Den Anspruch mitzureden hat sie gar nicht – und so geht es den meisten Delegierten. Voller Stolz spazieren sie mit Fotoapparat über den festlich hergerichteten Platz des Himmlischen Friedens. Vermutlich ersetzt es lange Reden über das Parteitagsgeschehen in der heimischen Provinz, wenn man dort das Foto mit sich und dem Mao-Porträt auf dem berühmten Platz zeigen kann.

Was bleibt, sind Schlagwörter und Parolen. Vor dem Parteitag sprachen die Delegierten am meisten von Aufregung, Auszeichnung, Verantwortung und Mission. Jetzt reden sie mit den Worten ihres Noch-Parteichefs: „Mit der Zeit Schritt halten“ und „die Entwicklung beschleunigen“. Niemand wagt von der Parteilinie abzurücken.

Entsprechend ausgeschlossen vom Geschehen sind die ausländischen Medien. Für sie bestand zwar die theoretische Möglichkeit, Gespräche mit Delegierten zu beantragen. Doch nach Dutzenden von Anfragen und fast ebensoviel Absagen sind die Beamten des Außenministeriums, die der Partei bei der Gesprächsvermittlung helfen mussten, der Verzweifelung nah.

Es bleibt Beobachtern also gar nicht anderes übrig, als sich wie die Delegierten an den in deutscher Fassung 90 Seiten langen Redetext von Jiang Zemin zu halten. Da werden sogar die neuen Parolen erklärt: „Mit der Zeit Schritt halten bedeutet, dass die gesamte Theorie und Arbeit der Partei den Zeitgeist widerspiegeln, die Gesetzmäßigkeiten erfassen und reich an Kreativität sein sollen.“ Zeitgeist und Kreativität haben im heutigen China durchaus Chancen – nur alle fünf Jahre nicht, wenn die Partei tagt.

GEORG BLUME