Scharmützel am Bahndamm

In Lüneburg musste ein ICE eine Notbremsung einleiten. Die Gleisbesetzer erwartet eine Anzeige wegen „gefährlichen Eingriffs in den Schienenverkehr“

von JÜRGEN VOGES
, HEIKE DIERBACH
und NICK REIMER

„Die Polizei dankt Ihnen für Ihr Verständnis für die Maßnahme der Absperrung“, verkündete am Bahnhof Dahlenburg der örtliche Einsatzleiter. Gerade hatte der Castor-Transport in mäßigem Tempo, aber ungestört den auf halber Strecke zwischen Lüneburg und Dannenberg gelegenen Haltepunkt passiert. Vorneweg eine Mischung aus Draisine und Polizeiwanne: ein gelbes Fahrzeug der Bahn, auf dessen Ladefläche in einem Holzaufbau ein knappes Dutzend BGS-Beamter in voller Kampfausrüstung Platz gefunden hatte. Dahinter ein Gleisbaufahrzeug mit einem Kran und Reparaturmaterialien, anschließend der lange Atommüllzug.

Lüneburg, von wo aus sich der Castor-Zug, von AKW-Gegnern zunächst unbehelligt, dem Wendland näherte, konnte die Atommülllieferung am Mittwochmittag allerdings nur mit sechs Stunden Verspätung erreichen. Nach den ersten Blockadeversuchen bei Mannheim und Göttingen geriet der Zug hinter Hannover zum ersten Mal ins Stocken. Der Castor-Transport näherte sich Lüneburg nicht auf direktem Wege. Um einen Fahrtrichtungswechsel und Rangieren zu vermeiden, steuerte der Zug von Hannover aus in weitem Bogen an Bremen vorbei über Maschen bei Hamburg von Norden her Lüneburg an.

Dabei wurde er südlich von Verden von etwa 30 AKW-Gegnern und einem Stapel brennender Autoreifen gestoppt. Nach Angaben der Castor-Einsatzleitung in Lüneburg stoppte ein vor dem Transport fahrender Güterzug zuerst vor der Blockade. Durch Rangieren habe es zusätzliche Verzögerungen gegeben, hieß es. Nicht einmal zehn Kilometer weiter nördlich, bei Dörverden, hatten sich dann zwei Castor-Gegner in einem durch das Gleisbett führenden Stahlrohr zusammengekettet, das der BGS aufsägen musste.

Zu einer dramatischen Szene kam es dann kurz vor 11 Uhr in Lüneburg. Rund 30 DemonstrantInnen waren auf die Hauptstrecke Hamburg–Hannover gelangt, die an dieser Stelle auch Castor-Transportstrecke ist. Ein herannahender ICE aus Hamburg leitete eine Notbremsung ein. Als der Zug noch etwa 250 Meter von den DemonstrantInnen entfernt war, verließen diese die Gleise – kehrten aber sofort zurück, als sie sahen, dass der Zug rechtzeitig zum Halten gekommen war. Die Polizei räumte die Blockade und nahm alle DemonstrantInnen in Gewahrsam. Sie erwartet eine Anzeige wegen „gefährlichen Eingriffs in den Schienenverkehr“.

In Gewahrsam genommen wurde auch eine taz-Fotojournalistin, die die Szene auf der Schiene dokumentiert hatte. Begründung von Polizeipressesprecher Detlev Kadinski: „Sie war auf den Gleisen, also musste der Zug auch ihretwegen halten.“

Langsam, aber fast reibungslos rollte der Transport dann zwischen Lüneburg und Hitzacker weiter. Zwar hatten sich am Bahnhof Leitstade zwei Aktivisten an den Schienen festgekettet. Sie wurden aber schnell aus den Gleisen geschnitten und mit zehn weiteren Protestierenden festgenommen. Erfolglos diesmal Robin Wood. „Noch bevor sich unsere Experten bei Rohstorf abseilen konnten, wurden sie festgenommen“, so Robin-Wood-Sprecherin Bettina Dannheim. Unklar war am Nachmittag die Lage in Hitzacker. Hier war es dutzenden Demonstranten gelungen, sich neben die Gleise zu setzen und sie so zu blockieren. Schätzungsweise tausend Demonstranten versuchten, dem Beispiel zu folgen. Allein die massive Polizeipräsenz verhinderte dies.

Um 16.45 Uhr kam der über 600 Meter lange Castor-Zug mit seinen vier Dieselloks schließlich im Bahnhof von Dannenberg an. In der Nacht sollte der Atommüll auf Spezialtieflader verfrachtet werden, um die letzten 18 Kilometer auf der Straße ins Zwischenlager Gorleben zu rollen. Die Anti-Atom-Bewegung hatte im Vorfeld erklärt, einen ihrer Protestschwerpunkte auf den dann folgenden Straßentransport zu konzentrieren.

In Berlin hatte Greenpeace unterdessen schon mal ein Dutzend Castor-Atrappen vor der Parteizentrale der Grünen zwischengelagert – damit die Verantwortung der Politik für die Atompolitik nicht vergessen wird. Die Grünen würden die Debatte scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Die rund 40 Aktivisten wollten bleiben, bis die echten Castoren in der Halle in Gorleben sind.