Die Entzündung

aus Hannover HEIKE HAARHOFF

Barbara S., polnische Staatsbürgerin, arbeitete als Putzfrau bei Deutschen. Am 27. August 2001 verletzte sie sich am rechten Mittelfinger. Sieben Tage später mussten Ärzte am Klinikum Hannover Oststadt die Fingerkuppe amputieren. Noch in derselben Woche verließ Barbara S. Deutschland. Vergangenen Freitag kehrte sie für zwei Tage zurück. Um vor dem Arbeitsgericht Hannover für ihre Klage einzutreten: auf Zahlung von 1.403,91 Euro Lohn und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Das Verfahren richtet sich gegen das Ehepaar Veronika R. und Horst R. aus Lehrte bei Hannover.

Horst R. ist ein Mann, mit dem man reden kann. 46 Jahre ist er alt, Facharzt für Anästhesie. Er strahlt Gutmütigkeit und Ruhe aus, wie er so dasitzt mit Vollbart, die Hosenträger überm Bauch gespannt, das Karojackett über die Stuhllehne gehängt. Aber wenn er sich zu Unrecht angegriffen fühlt, wirkt er fassungslos. Er und seine Frau vor Gericht. Ausgerechnet. „Wir wollten eine Hilfestellung geben“, sagt Horst R. Nun fühlen sie sich ausgenutzt. Der Ausbeutung bezichtigt. Der Lüge. Wo sie einst ein beinahe freundschaftliches Verhältnis hatten. „Speziell meine Frau hat das ungeheuer mitgenommen. Sie ist total deprimiert. Wir sind nicht der Meinung, etwas Unanständiges getan zu haben.“

Wahrheit ist immer die Wahrheit des Interpretierenden. Aber über einen Teil sind sich alle Prozessbeteiligten einig: Es gab eine Anzeige in der polnischen Zeitung Auto Gielda Dolnoslaska, erschienen am 5. Juni 2001, aufgegeben von den R.s: „Arbeiten in Deutschland. Deutsche Familie sucht Haushaltshilfe. Voraussetzung Deutsch oder Englisch. Hannover (Deutschland).“ Darunter die Telefonnummer der R.s.

Barbara S., 45 Jahre alt, spricht weder Englisch noch Deutsch. Sie brauchte Geld. Ihr Haus im polnischen Stare Bogaczowice liegt im Quellgebiet der Oder. Dreimal in den letzten Jahren kämpfte sie gegen die Flut im Keller. In ihren gelernten Berufen – Agrartechnikerin und Speisen-Dekorateurin – konnte sie im Sommer 2001 nicht arbeiten: Wegen einer Krankheit bekam sie Sozialrente. Zu der durfte sie sich nach polnischem Recht etwas dazuverdienen.

Sie weint. Sie hat Beruhigungstabletten geschluckt, um das Wiedersehen mit den R.s vor Gericht durchzustehen. „200 Mark für einen Monat Putzen, Kochen, Bügeln, Kinder betreuen, zehn Stunden jeden Tag.“ Schon nach der ersten Woche bei sei ihr klar gewesen, dass sie betrogen werden solle. 1.200 Mark habe Veronika R. ihr am Telefon versprochen – und plötzlich sollten es nur 200 sein. Die Sozialabgaben seien so hoch, habe sie zu hören bekommen. Niemand lässt sich so was bieten. Aber ihr habe Geld für die Rückfahrkarte gefehlt.

Dann der Unfall. Sie schaut auf ihren rechten Mittelfinger. Rot und kurz ist der, mehrfach operiert und höchst empfindlich. Aufräumarbeiten in der Vorratskammer der R.s, ein Ratscher an der Werkzeugkiste, ein Nichts. Bis es sich entzündete. Bis Horst R., der Arzt, es versäumt habe, sie rechtzeitig zur Behandlung ins Krankenhaus zu bringen. Sie wischt sich über die Wange.

Die gemeinsame Wahrheit, Teil zwei, geht so: Den ersten Telefonkontakt zu den R.s hatte ein deutsch sprechender Nachbar in Stare Bogaczowice hergestellt. Doch die Verständigung schien kein Problem zu sein. Veronika R., medizinisch-technische Assistentin, 41 Jahre alt, ist gebürtige Polin. Ihre Kinder sprechen fließend Deutsch und Polnisch; früher arbeiteten im Haushalt polnische Au-pair-Mädchen.

Was die beiden Frauen in den folgenden Telefongesprächen vereinbarten, ist strittig. Fest steht: Am 7. August 2001 zog Barbara S. ins Haus der R.s in Lehrte ein. Ohne Arbeitsvertrag, ohne Arbeitserlaubnis und ohne Sozialversicherung, bei freier Kost und Logis.

„Einer von Ihnen lügt“

Der Vorsitzende Richter am Arbeitsgericht Hannover, Thomas Bödecker, sieht Barbara S. an. Sie bleibt dabei: Ja, sie war die Putzfrau der R.s. Sein Blick wandert zu den R.s. Stimmt überhaupt nicht. Vielmehr hätten sie die Anzeige ursprünglich für einen Freund aufgegeben, Barbara S. aber sei wegen ihrer fehlenden Sprachkenntnisse nicht in Frage gekommen, hätte ihnen leid getan. „Sie hat bei uns als Gast gewohnt, guck doch erst mal einen Monat, was sich so machen lässt.“ Und Veronika R. sei ihr ein bisschen behilflich gewesen: Putzstellen bei Bekannten, Kollegen, Nachbarn zu finden, zehn habe sie insgesamt vermittelt. Von Lohn sei nie die Rede gewesen; die 200 Mark hätten sie ihr nach ihrer Operation als Reisekostenzuschuss für die Rückfahrt nach Polen gegeben, als letzten Freundschaftsbeweis. Thomas Bödecker schaut von einem zum anderen: „Einer von Ihnen lügt.“

Dann wird der Arbeitsrichter, der sich auf seinen juristischen Auftrag beschränken könnte, herauszufinden, ob ein Arbeitsverhältnis bestand, scharf. Wie ein Unwetter prasselt seine Standpauke auf die Zuhörer im Saal nieder: Wer polnische Staatsbürger ohne Erlaubnis beschäftige, riskiere bis zu 250.000 Euro Bußgeld. Wer Menschen für 250 Monatsstunden Arbeit 1.200 Mark in Aussicht stelle, handle sittenwidrig. Wer behaupte, das alles gar nicht zu tun, aber per Anzeige Personen aus dem Ausland anwerbe, was einzig der Bundesanstalt für Arbeit vorbehalten sei, dem drohten bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe. Wer die Angeworbenen auch noch berate, um woanders illegal zu putzen, betreibe unerlaubte Arbeitsvermittlung: zehn vermittelte Stellen gleich zehn Straftaten. Wer schließlich im Gerichtssaal lüge, begehe Prozessbetrug. „Das ist eine weitere Straftat.“

Der Richter macht eine Pause, und für den kurzen Moment des einsetzenden, betretenen Schweigens ist es, als erreiche den Gerichtssaal die unbequeme Erinnerung an die Verlogenheit eines jahrzehntealten Systems illegaler Beschäftigung, das fast jeder kennt und trotzdem toleriert. Eben weil es so günstig ist, so praktisch, so gesellschaftlich anerkannt, auf dem Bau, in der Landwirtschaft, im Haushalt.

Horst R. sitzt im Café und raucht die dritte Zigarette in 45 Minuten. Seine Frau und er haben vor Gericht eine gütliche Einigung abgelehnt. Der Richter hatte einen eleganten Ausweg aufgezeigt. Legalisierung des Arbeitsverhältnisses, ausnahmsweise und im Nachhinein. Voraussetzung: die R.s zahlen den ausstehenden Lohn. Damit aber würden sie auch das Beschäftigungsverhältnis anerkennen.

„Wir haben Fehler gemacht“

Horst R. schüttelt den Kopf. Er weiß, dass ihm und seiner Frau jetzt möglicherweise der Staatsanwalt droht. „Wir haben Fehler gemacht“, sagt er. „Aber die sind in Unkenntnis geschehen.“ Er zündet eine vierte Zigarette an. Sein Schwager, erzählt er dann, beschäftige regelmäßig polnische Saisonarbeiter. Ganz legal. „Es gibt Arbeiten, für die findet man keine Deutschen.“ Und das hätte eben auch jener Freund gesagt, für den sie die Anzeige geschaltet hätten. Als die Vermittlung nicht geklappt habe, hätten er und seine Frau Barbara S. helfen wollen, etwas anderes zu finden. Weil die Bewerberin so nett war.

Im Gegenzug sei Barbara S. oft mittags da gewesen, wenn der Sohn aus der Schule kam, habe ab und zu gekocht oder auch das Bad gewischt, wenn sie nicht gerade ihrer Putztätigkeit bei anderen Leuten nachgegangen sei, und abends hätte sie auch mal die Kinder gehütet. „Alles im Rahmen dessen, was man in einer Wohngemeinschaft so füreinander tut“, sagt er. „Wir fanden das ganz angenehm, dass sie da war. Man gewinnt dadurch mehr Flexibilität.“

Nun ist nichts mehr flexibel. Barbara S. behauptet, dass ihre Fingerkuppe auch deswegen amputiert werden musste, weil nicht sie sich weigerte, einen Arzt aufzusuchen, sondern weil sich die medizinisch-technische Assistentin und der Arzt in Ermangelung einer Unfallversicherung für ihre Putzfrau darum drückten, Barbara S. rechtzeitig ins Krankenhaus zu bringen. Wenn das stimmt und wenn sich ebenfalls beweisen lässt, dass die R.s sie lieber mit fragwürdigen Methoden selbst behandelten, dann dürften dem vergangenen Freitag noch viele Prozesstage folgen. Und nicht nur vor dem Arbeitsgericht. Barbara S. weiß das. Sie hat sich gefangen. Sie sagt: „Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde und nur meine Sachen holen wollte, war bei den R.s eine neue Polin eingezogen.“

Das Berliner Institut für Wirtschaftsforschung hat ermittelt, dass 1999 in Deutschland etwa 2,7 Millionen Privathaushalte regelmäßig eine Putz- oder Haushaltshilfe beschäftigten. Bei der Sozialversicherung sind 38.000 Haushaltshilfen angemeldet.

Die Verhandlung mit dem Aktenzeichen 13Ca268/02 wird am 20. Dezember fortgesetzt. Das Arbeitsgericht Hannover will dann mehrere Zeugen hören.