Der Blindflug der Neulinge

aus Berlin HEIKE HAARHOFF

Die Worte wabern durch den Versammlungsraum im Reichstagsgebäude. Absenkung der monatlichen Schwankungsreserve. Rückkehr zum indikationsabhängigen Festzuschuss. Kapitaldeckungsverfahren der Zusatzversorgungskassen.

Michael Hennrich sagt keinen Ton. Er versteht ja auch kaum einen Ton. Zu wenig jedenfalls, sagt der Bundestagsabgeordnete, „um mich zu Wort zu melden und mehr zu erreichen als eine Erwähnung im Protokoll“. So schweigt er und verfolgt das Geschehen im Saal.

Knapp 50 Experten aus Krankenhäusern, Krankenkassen, Arzneimittelhersteller- und Apothekerverbänden, Verbraucher- und Versicherungsgesellschaften, Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen halten an diesem Dienstag ihre Vorträge. Das Publikum besteht aus 40 Abgeordneten, die dem „Ausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung“ des Bundestags angehören. Kurz vor der Abstimmung erhoffen sie sich noch einmal Argumentationshilfen von außerparlamentarischen Experten. Am heutigen Freitag wird abgestimmt. Es geht darum, dass Millionen Arbeitnehmer und ihre Unternehmen höhere Rentenbeiträge zahlen müssen und dass für die Gesundheitsversorgung der Menschen weniger Geld zur Verfügung steht. Zwei höchst umstrittene Gesetzentwürfe der rot-grünen Bundesregierung.

Michael Hennrich sitzt für die CDU im Gesundheitsausschuss. 37 Jahre ist er alt, von Beruf Rechtsanwalt, spezialisiert auf Wirtschaftsverfahren. Die Wähler aus dem Kreis Nürtingen westlich von Stuttgart haben ihn Ende September in den Bundestag befördert, damit er ihre Interessen vertrete. Es sind seine ersten Wochen als Abgeordneter, der Ausschuss hat sich erst letzte Woche konstituiert. „Ich wollte wirklich gern in den Gesundheitsausschuss“, sagt er, „und als unbefangener Mensch im Interesse des Allgemeinwohls entscheiden.“

Über Nacht 63 Seiten Protokoll

Das hat er nun davon: Drinnen müht er sich, der Diskussion zu folgen, draußen demonstrieren 15.000 Menschen gegen die Gesundheitspolitik der Regierung, und am Freitag wird Michael Hennrich abstimmen. Er weiß, dass er opponieren wird. Er ist schließlich in der CDU. Aber er wird als inhaltlicher Laie entscheiden. Für eine gewissenhafte Auseinandersetzung mit den geplanten Gesetzen blieb keine Zeit, sagt Michael Hennrich. Nicht einmal den Mitgliedern des Gesundheitsausschusses, die sich mit den Gesetzentwürfen eingehender befassen sollen, bevor das ganze Parlament über sie berät und beschließt. Und die gelten innerhalb ihrer Fraktion immerhin als Experten.

Experten. Er guckt aus großen Augen wie einer, der betrogen wurde und zur Gegenwehr noch zu überrascht ist. „In kürzester Zeit werden hier Gesetze durchgepeitscht“, sagt er, „ohne Rücksicht auf Neulinge.“ Jeder kann selbst zusehen, wie er sich durch die sperrig formulierten Papiere kämpft.

Der Anhörung im Bundestag folgt einen Tag später eine Ausschusssitzung. Es ist die zweite dieser Legislaturperiode, nicht mal alle Abgeordneten gleicher Parteizugehörigkeit hatten bislang Gelegenheit, sich mit Namen kennen zu lernen. „Den Herrn Hennrich suchen Sie? Ja, in welcher Partei soll der denn sein“, fragt ein CDU-Abgeordneter am Eingang zum Sitzungsraum.

Einen Tag nach der Anhörung geht es im Ausschuss wieder um die Spar- und Eilgesetze im Sozialbereich. Die Protokollanten waren fleißig: 63 Seiten stark ist über Nacht ihre Zusammenfassung der Expertenanhörung aus dem Reichstag geworden. Hennrich wünscht sich eine Woche Zeit, um die Ergebnisse bewerten zu können, Fachbegriffe noch einmal nachzuschlagen. Schon aber bringt die Hauspost sieben neue Änderungsanträge zu einem Gesetzentwurf, der zuletzt vor acht Tagen geändert wurde, und dessen Namen Hennrich schon wieder vergessen hat. Zur Kenntnisnahme. Für mehr reicht es ohnehin nicht.

„Das Parlament muss aus eigener Kraft initiativ werden.“ Hennrich grinst ein bisschen, wie er, der Jurist, sich da selbst erzählt, was Gewaltenteilung ist, so als laufe er Gefahr, es zu vergessen. „Tatsächlich verlassen sich die Abgeordneten aus Zeitmangel zu stark auf die Regierung.“

Was bleibt ihnen auch? Von 40 Mitgliedern gehörten nur 15 bereits in der vergangenen Legislaturperiode dem Gesundheitsausschuss an. Sieben haben sich immerhin schon im früheren Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung mit dem Thema Rente beschäftigt. Die 18 anderen sind neu im Bundestag oder aus anderen Fachausschüssen hierher gewechselt. Die Wahl 2002 brachte den Generationenwechsel. Der Gesundheitsausschuss gilt als einer der thematisch komplexesten, einer, der seinen Mitgliedern ein hohes Maß an Fleiß, aber auch Misstrauen abverlangt: So viele widerstreitende Interessen und mächtige Lobbyisten gibt es anderswo selten. Umso schwerer wiegt der Verlust von Kontinuität und Fachwissen.

Bei den Grünen ist nach dem Ausscheiden von Monika Knoche und Exministerin Andrea Fischer aus dem Bundestag sowie dem Aufstieg der Rentenexpertin Katrin Göring-Eckardt zur Fraktionschefin gesundheits- und rentenpolitisches Fachpersonal rar. Von den vier Grünen im Ausschuss hat nur eine bereits Bundestagserfahrung, jedoch nicht in der Gesundheitspolitik. Die anderen schlagen sich durch.

Einmal und nie wieder

Der Politikwissenschaftler Markus Kurth, 36, hatte auf Platz zwölf der Grünen-Landesliste von Nordhrein-Westfalen kaum mit einem Ruf nach Berlin gerechnet. Erst nach der Wahl fing er an, sich gezielt einzuarbeiten – in die Gebiete Wirtschaft und Arbeit. Es war das falsche Thema, denn er ließ sich von Parteifreunden in den Gesundheitsausschuss drängen. Zur Belohnung wurde er sozialpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion.

Markus Kurth sagt, er könne nicht beschwören, alle Details des Sparpakets zu kennen, für das er heute stimmen wird. „Ich gehe aber davon aus, dass ein solcher Vorgang, vor allem die Geschwindigkeit, mit der er vorangetrieben wurde, die Ausnahme bleibt.“

Ein zweites Mal, da sind sich die Neuen im Bundestag über Parteigrenzen hinweg einig, wollen sie sich nicht vom politischen Aktionismus der Regierung überrumpeln lassen. Nicht etwa aus Wut über die eigene Unterlegenheit, sagt der CDU-Neuzugang Jens Spahn, o nein. „Es heißt, die Opposition soll konstruktiv mitarbeiten. Dann muss ihr dazu auch Gelegenheit gegeben werden.“

Aus Ahaus kommt er, dort, wo Atomkraftgegner regelmäßig die Straßen vor dem Castor blockieren. Mit 15 in die Junge Union, mit 17 in die CDU, mit 22 als Direktkandidat in den Bundestag. Jens Spahn, von Beruf Bankkaufmann, weiß, wie man sich durchsetzt. „Wir werden das System grundlegend ändern müssen“, sagt er nach nicht mal zwei Monaten im Parlament. Krankenkassen sollten wie Hausratversicherungen funktionieren, „Leistung und Eigenbeteiligung legt jeder selbst fest“, und von den Alten müsse endlich Gerechtigkeit, also Verzicht eingefordert werden, „die jetzige Rentenpolitik ist eine Katastrophe für unsere Generation“. Jens Spahn findet, dass es dafür lohnt, sich mit der eigenen Fraktion anzulegen. Noch sei er dazu nicht ausreichend eingearbeitet. Wann hätte er das auch tun sollen? In den ersten Wochen musste er sich eine Wohnung in Berlin suchen, als Arbeitsraum wurde ihm ausgerechnet ein altes PDS-Büro zugeteilt, das zuerst nicht einmal einen Computer hatte. Das fand er nicht lustig. Die Visitenkarten sind bis heute nicht gedruckt.

Normal, ganz normal sei dieses Aufmucken, wenn einer neu ist im Bundestag, sagt der SPD-Politiker Peter Dreßen. Mit acht Jahren Parlamentszugehörigkeit gehört der 59-jährige Gewerkschafter aus Südbaden schon zu den alten Hasen. „Du wirst ins kalte Wasser geworfen, kämpfst dich durch, ärgerst dich auch über die eigenen Leute, denkst, was die machen, dafür bist du nicht gewählt worden, diesen Dreck trägst du nicht mit.“ Für Dreßen hieß der Dreck Kosovokrieg. Er wehrte sich. Stimmte dagegen. „Sprecher oder Staatssekretär ist dann natürlich nicht mehr drin.“ Stattdessen: Einladungen zu Ranghöheren, vermeintlich verständnisvolle Gespräche, sanfter Druck. Wer die Mehrheit gefährdet, gefährdet sich selbst.

Die Nullrunden für Krankenhäuser, die Erhöhung der Rentenbeiträge? „Wir müssen das jetzt machen“, sagt Dreßen, „ich glaube, was da als Gesetzentwurf vorliegt, ist gut.“ Um Abweichler muss sich die SPD bei der Abstimmung jedenfalls keine Sorgen machen, nicht einmal bei denjenigen, die wissen, dass die Gesetze nicht der große Wurf sind.

Der große Wurf kommt später

Die Hautärztin Marlies Volkmer, 55 Jahre, hatte schon zwölf Jahre Gesundheitspolitik im sächsischen Landtag hinter sich, bevor sie vor wenigen Wochen nach Berlin wechselte – mit dieser Qualifikation ist sie eine Ausnahme unter den Neuen. „Wir in den neuen Ländern werden durch die Nullrunden stärker belastet“, sagt die SPD-Politikerin, und macht zum Beweis eine Rechnung auf: Ursprünglich seien dem Osten 2,1 Prozent Budgetsteigerung zugesagt gewesen, dem Westen hingegen nur 0,8 Prozent. „Bei eingefrorenen Budgets ist der Verzicht im Osten also real größer.“ Trotzdem wird Marlies Volkmer zustimmen, sie hofft ja,dass die wirkliche Reform erst noch kommt.

Darauf setzt auch die 48-jährige SPD-Abgeordnete Hilde Mattheis aus Ulm. „Natürlich konnte ich in der kurzen Zeit nicht Punkt für Punkt überprüfen, ob das Gesetz wirklich hält, was es verspricht“, sagt die Lehrerin. Wichtig ist der Bundestagseinsteigerin, dass vor allem Pflegerinnen und Pfleger nicht noch mehr arbeiten müssen als bisher, wenn die Budgets eingefroren werden. Genau deswegen aber gingen diese in den vergangenen Tagen auf die Straße. Hilde Mattheis sagt: „Ich vertraue den Einschätzungen meiner Kollegen mit längerer Erfahrung.“