Der plötzliche Tod

Die Woche der Verlängerung: Das Spiel aller Spiele braucht manchmal 30 Minuten mehr

Dass früher alles besser war, sagen wir ja in der Regel nur, falls uns sonst körperliche Pein droht, aber wenigstens in einem Fall bestätigen wir diese These freiwillig mit einem schüchternen Nicken. Verlängerungen waren früher tatsächlich besser – was Fußballhistoriker schon seit langem propagieren. Sie erzählen uns dann gern vom Halbfinalspiel der WM 1970 zwischen der DFB-Truppe und Italien: Sagenhafte fünf Tore fielen in der Verlängerung, und die Schwarzweißen verloren mit 3:4. Keines der beiden Teams konnte darauf hoffen, sich im Fall eines Unentschiedens ins Elfmeterschießen zu retten, denn das gab es noch gar nicht; es wurde erst nach der Weltmeisterschaft eingeführt. Auch die Kontrahenten der vorangegangenen vier WM-Spiele, die zwischen 1954 und 1970 in die Verlängerung gegangen waren, hatten gewusst, dass innerhalb dieser 30 Minuten die Sekt-oder-Selters-Frage geklärt werden muss, und so war nach insgesamt zwei Stunden Spielzeit stets ein Sieger gefunden.

Vor der nächsten WM schafften die Herrscher des Fußballs das K.o.-System ab, so dass zwei Turniere verlängerungslos verliefen. Davon hat sich die gepflegte Verlängerungskultur nie wieder erholen können, und mit dem realen Sozialismus ging auch sie endgültig den Bach runter, wie sich bei der WM 1990 zeigte. Die Hälfte aller verlängerten Spiele – vier! – ging unentschieden aus, so dass erst nach dem Elferschießen Klarheit herrschte. Und vier respektive acht Jahre später passierte in jeweils drei von vier Verlängerungen nichts Entscheidendes. Daraus schlossen die Kick-Analysten, dass Mannschaften in der Verlängerung dazu neigen, auf Nummer sicher zu gehen, weil sie auch danach noch die nötigen Tore schießen können.

Eine Verlängerung dauert 30 Minuten, soll ein bekannter Fußballphilosoph einmal gesagt haben, aber hundertprozentig gestimmt hat das ohnehin nie. Als 1922 im Finale um die deutsche Meisterschaft der HSV gegen den 1. FC Nürnberg spielte, dauerte sie 99 Minuten, und vermutlich hätte sie sich noch länger hingezogen, wenn der Schiedsrichter nicht gezwungen gewesen wäre, abzupfeifen. Es war einfach zu heiß, um menschenwürdig weiterzukicken.

Die Extremverlängerung ist vereinzelt noch verbreitet. So berichtet Rudi Gutendorf in seinen sehr langen Memoiren „Mit dem Fußball um die Welt“ (Göttingen 2002), im Halbfinale der Ost- und Zentralafrika-Meisterschaft sei es im November 2000 zu einer „zweimaligen Verlängerung“ zwischen seiner ruandischen Elf und Äthiopien gekommen. War aber nicht hilfreich, denn auch hier fiel die Entscheidung erst im Elfmeterschießen, gegen Gutendorfs Ruanda übrigens.

Die Verlängerung zu verlängern, mag rückständig wirken, wo doch die Protagonisten des Spiels über ihre unmenschlich hohe Belastung klagen, doch wahrhaft barbarisch ist es vielmehr, die Verlängerung zu verkürzen, das heißt, eine Partie meistens genau dann enden zu lassen, wenn die Verlängerung gerade erst spannend geworden ist. Die Welt kennt die dubiose Regel unter dem Schlagwort „Golden Goal“. Sie kündige, philosophierte die Süddeutsche Zeitung im Juni dieses Jahres, „das Apriori des Fußballs auf“, indem sie „im noch laufenden Match die Spieldauer zu einer Variable des Spielgeschehens macht“, was nicht weniger bedeute als die „Selbstaufhebung des Fußballspiels“.

Uneingeschränkt dafür einzutreten, dass die Verlängerung in voller Länge erhalten bleibt, ist Ehrensache, weil es sich hierbei um einen antifaschistischen Akt handelt. Entnehmen wir doch einem Beitrag des Fachblatts Libero (No. D16/98), dass die Nazis komplette Verlängerungen verschmähten und Pokalspiele durch Golden Goal entscheiden ließen – sie nannten den Modus „Sudden death“.

Ja, die Verlängerung als Ganzes steht für das Gute, und deshalb hatten 1995 zwei mittelständische Verlage die Idee, eine Zeitschrift so zu nennen. „Wer verteidigt die letzten Bastionen einer gewachsenen Fußball-Kultur, die sich zumindest in der Verlängerung gegen die Vermarkter doch noch durchsetzt?“, editorialten die Macher damals forsch. Nun, die „Kultur“ hat bekanntlich verloren, schon nach der regulären Spielzeit. Wahrscheinlich dauerte das Leben der Verlängerung auch deshalb nicht lange, sondern bloß vier Ausgaben. Wer dabei seine verlängerten Finger mit im Spiel hatte, hat die medienjustizhistorische Forschung bisher nicht eruieren können.

RENÉ MARTENS