türkei
: Unbelastete Doppelspitze

Die Türkei spielt jetzt mit zwei Spitzen und drängt damit vehement in den europäischen Strafraum. Während der designierte Ministerpräsident Abdullah Gül zu Hause eine neue Regierungsmannschaft zusammenstellt, ist Parteichef Tayyip Erdogan auf Tour durch die europäischen Hauptstädte. Die türkische Doppelspitze ist zwar in der Tat ungewöhnlich – im Moment aber vielleicht gar nicht schlecht. Die neue Mannschaft in Ankara steht unter einem so enormen Druck, dass ein Mann allein ihn kaum bewältigen kann.

Kommentar von JÜRGEN GOTTSCHLICH

Bis heute Abend sollen die türkischen Zyprioten dem UN-Generalsekretär bekannt geben, ob sie den von Kofi Annan vorgelegten Plan als Verhandlungsgrundlage akzeptieren. Zypern ist für Erdogan und Gül eine schwierige Gratwanderung. Zwar akzeptieren sie selbst offenkundig den UN-Vorschlag – doch müssen sie auch die skeptischen Militärs in Ankara sowie den schwierigen Chef der Zyperntürken, Raulf Denktasch, mit ins Boot bekommen. Es ist eine gewaltige Aufgabe, den seit 40 Jahren ungelösten Zypernkonflikt innerhalb von drei Wochen aus der Welt zu schaffen – und nun sollen die beiden gleichzeitig bis zum 12. Dezember glaubwürdige Reformen durchführen, um auf dem Kopenhagener Gipfel eine Chance für einen Termin über den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der EU zu bekommen.

Als wenn dieser enorme außenpolitische Druck nicht reichen würde, muss auch ein wirtschaftliches Sofortprogramm her, das sowohl den Armen hilft als auch den Internationalen Währungsfonds zufrieden stellt. Für die Türkei gibt es in den kommenden Wochen viel zu gewinnen, aber auch viel zu verlieren.

Es ist weder Verdienst noch Schuld der islamischen AK-Partei, dass sie in einer Situation, die für die türkisch-europäischen Beziehungen von entscheidender Bedeutung ist, die Regierung übernommen hat. Sie konnte sich den Zeitpunkt nicht aussuchen und muss sich doch den wichtigen Entscheidungen über die Frage Zyperns und des EU-Beitritts stellen. Das ist schwierig, weil die Regierung selbst noch in keiner Weise eingearbeitet ist, bedeutet aber auch eine große Chance. Die neue Doppelspitze kann – anders als ihre Vorgänger – an viele Fragen unbelastet herangehen. In einer Situation, in der schon die ersten Wochen über Erfolg oder Misserfolg entscheiden, ist das Konstrukt der Doppelspitze für Gül und Erdogan jedenfalls mehr Ent- als Belastung.

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