Das Maß aller Maße

Die Woche der Verlängerung: Wie das Pariser Urmeter um ein Haar verlängert wurde

Eine Welt ohne Urmeter wäre ein unreglementiertes Paradies – ohne Zaun und Zollstock

Eigentlich ein abwegiger, ja völlig abstruser Gedanke: das Urmeter, das seit 1795 im Internationalen Büro für Maße und Gewichte (BIPM) in Sèvres bei Paris unter etlichen Käseglocken verwahrt wird, verlängern zu wollen. Für uns Junganarchisten in der Gruppe „Maßlos Glücklich“ aber, die wir in den Fünfzigerjahren in Brüssel und Bayern zusammensaßen, um den entscheidenden Hebel zum Umsturz der Verhältnisse ausfindig zu machen, war die Verlängerung des Urmeters der erste notwendige Schritt zur Schaffung einer gerechteren Gesellschaft.

Heute, wo ganz andere Dinge verlängert werden, mag man vielleicht den Kopf darüber schütteln – damals schüttelten wir den Kopf über das Urmeter. Wir waren überzeugt, dass dieser Platin-Iridium-Stock, der da in einem Keller bei Paris vermoderte, das Leben von Millionen Menschen beherrschte, düpierte, vergewaltigte. Gingen nicht alle Restriktionen, die uns einschnürten, alle Besitzverhältnisse, die uns auspressten, alle Gleichmacherei, die uns demütigte, letztlich immer und immer wieder vom Urmeter aus!? War es nicht das Maß aller Maße? Wurden wir nicht alle mit diesem „Prügel“ von Geburt an vermessen, registriert, klassifiziert, genormt?

Die Frage war nur, wie wir es verschwinden lassen könnten. Eine Welt ohne Urmeter, so schwärmten wir, müsste über kurz oder lang im Chaos versinken, nichts mehr passte zusammen, keine Autorität würde Bestand haben, und jeder selbst könnte entscheiden, was wie lang zu sein hätte und was nicht. Das Ergebnis wäre ein strikt unreglementiertes Paradies – ohne Zaun und Zollstock.

Nächtelang diskutierten wir, was getan werden müsste. Der Plan, das Urmeter einfach verschwinden zu lassen, schied bald aus, denn es war nicht auszuschließen, dass die Franzosen ein Zwillingsmeter im Panzerschrank versteckt hielten. Außerdem wussten wir selbstverständlich, dass alle Staaten ein eigenes Unter-Urmeter aufbewahrten, mit dem sie im Zehn-Jahres-Abstand nach Paris fuhren, um zu sehen, ob sie immer noch den gleich langen Ständer hatten. Im Fall des Verschwindens des Urmeters hätte man einfach ein spanisches oder polnisches Gegenstück genommen, und nichts wäre gewonnen. Also beschlossen wir, heimlich ein Stück vom Urmeter abzusägen, um auf diese Weise die Gewaltherrschaft den Kürzeren ziehen zu lassen.

Uns amüsierte der Gedanke, wie in absehbarer Zeit alles kleiner und kürzer werden würde: die Paläste der Herrschenden, die Gummiknüppel der Polizei, die 100-Meter-Bahn im Schwimmbad und der Schwanz von Josef Stalin. „Gebt mir das Urmeter“, rief ich aus, „und ich werde ihn persönlich abmess…“ – da dämmerte es mir plötzlich, dass alles umso länger erscheinen würde, je kürzer das Urmeter ausfiele. „Hey, da hätten wir der Welt ja einen Bärendienst erwiesen“, erläuterte ich den verblüfften Genossen. „Es würde sich alles nur verteuern: die Mieten, weil die Wohnungsflächen sich vergrößerten, die Fahrkarten, weil die Entfernungen zunähmen, die Kleidung, weil mehr Meterware nötig wäre …“ So ging es nicht. Wir mussten umgekehrt verfahren, wir mussten das Urmeter verlängern.

Verlängern – aber wie? Und um wie viel? Unser belgischer Freund Horacio Tomayér schlug vor, das Urmeter „um ein Haar“ zu verlängern. Das ließe sich unauffällig machen, und nach dem zehnjährigen internationalen Urmeterabgleich würden alle Meter der Welt um Haaresbreite zunehmen, was in der Summierung eine erkleckliche Strecke ergäbe. Er habe ausgerechnet, dass er dann auf der Bahnstrecke München–Brüssel 15 Pfennig sparen würde, und wenn man das hochrechnete, kämen wir alle unterm Strich viel besser weg. „Je weiter man fährt“, so Tomayér, „um so kürzer wird’s.“

Länger = kürzer: Das leuchtete uns ein, das erleuchtete uns, das war die Formel. Der Rest ein Kinderspiel. Einer von uns fand ein Haar in der Suppe, ein anderer beschaffte den Kaugummiabdruck des Schlüssels zur Tür des BIPM. Und ich besorgte den notwendigen Klebestreifen.

Ein paar Wochen später hatten wir das Pariser Urmeter um ein Haar verlängert – mit all den segensreichen Wirkungen, die in den folgenden Jahren für jeden Einzelnen deutlich spürbar wurden. Nur manchmal denke ich heute, wir hätten die Gunst der Stunde nutzen und das Urmeter nicht um ein Haar, sondern gleich um alles in der Welt verlängern sollen. RAYK WIELAND