Ein Geistesblitz mit Folgen

Ein kurioser Plagiatsstreit verhilft dem brasilianischen Schriftsteller Moacyr Scliar zu neuem Ruhm

Skurrile Kurzgeschichten sind ein Markenzeichen von Moacyr Scliar. Doch die Kontroverse um ein angebliches Plagiat seiner Novelle „Max e os felinos! (Max und die Katzen), die jüngst durch die Feuilletons Brasiliens und der englischsprachigen Welt schwappte, ist dem Erfindungsreichtum des 65-jährigen Autors aus Porto Alegre durchaus ebenbürtig.

Und das kam so: Für seinen Roman „Life of Pi“ erhielt der Kanadier Yann Martel den renommierten Booker-Preis. Die zentrale Idee – ein Jugendlicher findet sich mit einer Raubkatze in einem Rettungsboot wieder – wollte Martel von einer Rezension der Scliar-Novelle aus der Feder John Updikes erhalten haben, die in der New York Times erschienen war. Nur: Diese Rezension existiert nicht. Und im Vorwort von „Life of Pi“ heißt es lapidar: „Den Lebensfunken verdanke ich Herrn Moacyr Scliar.“ Ein Plagiatsfall?

Für die größte Aufregung sorgte in Brasilien ein verkürztes Martel-Zitat, nach dem er Scliar als „minderwertigen Autor“ bezeichnet haben soll. Dieses Missverständnis klärte Martel auf und rief bei Scliar an, um sich zu entschuldigen. „Damit ist der Fall erledigt“, sagt der Brasilianer, der einige Tage brauchte, um seine Fassung wiederzuerlangen. Nach der Lektüre von „Life of Pi“ ist er voll des Lobes: Der Roman habe den Preis verdient. Der 39-jährige Martel, derzeit Gastprofessor in Berlin, sei ein „guter Schriftsteller, der den Leser sofort für sich einnehmen kann“. Es handle sich auch nicht um ein Plagiat, „kein einziger Satz ist abgeschrieben. Martels Ansatz ist grundverschieden.“

Moacyr Scliar, der dieser Tage in den USA als einer der wichtigsten jüdischen Autoren geehrt wurde, kann auf ein umfangreiches Werk zurückblicken. Sein trockener, oft auch trauriger Humor entfaltet sich am besten in seiner schnörkellosen Kurzprosa. In „Max e os felinos“ flieht der jugendliche Protagonist vor den Nazis aus Berlin nach Brasilien – ebenso wie Scliars Schwiegervater, der erfolgreiche jüdische Operettenlibrettist Fritz Oliven („Rideamus“). Die Raubkatzen sind zugleich eine subtile Metapher für die brasilianische Militärdiktatur – Scliars Novelle erschien 1981. „Meine Generation wurde von dem damals herrschenden Klima des Autoritarismus geprägt, das jeden Intellektuellen, jeden Bürger in die Rolle eines Schiffbrüchigen versetzte, der sich in einem Boot einer rätselhaften und bedrohlichen Macht gegenübersah“, meint Scliar.

In seiner jüngsten Politnovelle „Os leopardos de Kafka“ (Kafkas Leoparden) greift er erneut die Raubkatzen-Metapher auf. Ein trotzkistischer Revolutionär aus Bessarabien soll in Prag eine geheime Mission erfüllen. Der Zufall will es, dass er ein kryptisches Kafka-Fragment für jenen Auftrag hält, den er zu entschlüsseln und auszuführen hat …

Woche für Woche entwickelt Scliar in der Folha de São Paulo aus einer Zeitungsnachricht eine Kurzgeschichte zum Schmunzeln und Nachdenken. Daneben hält der gelernte Arzt Vorlesungen an einer medizinischen Fakultät und schreibt historische Romane, Jugendbücher, Glossen, Essays. Schon jetzt gehört er zu den meistübersetzten Erzählern Brasiliens. Und auch die Aufregung der letzten Wochen hat sich gelohnt: Drei große Verlage aus den USA und Großbritannien wetteifern nun um die englischsprachigen Rechte für sein Gesamtwerk. GERHARD DILGER